Der Mondscheingarten
die fremde Frau, deren Namen Helen immer noch nicht kannte, zwischendurch, wenn sie verschnaufte, wunderbare Märchen, von Mädchen mit goldenen Fischen oder von einer Prinzessin, die wie ein Vogel aus einem Ei geschlüpft war. Manchmal brachte sie Helen ein wenig Zuckerzeug mit, am liebsten mochte sie die grünen Kugeln, die mit Palmzucker gefüllt und mit Kokos bestreut waren.
»Iss aber nicht zu viel davon«, ermahnte die Frau sie, als sie ihr einmal eine ganze Tüte überließ. »Wenn deine Mutter merkt, dass du keinen Hunger hast, wird sie misstrauisch werden, und dann ist unser Geheimnis in Gefahr, und ich kann nicht mehr herkommen.«
»Keine Sorge, ich hebe mir welche auf«, versicherte Helen, denn sie wollte auf keinen Fall auf die netten Stunden mit ihrer Freundin verzichten – zumal sie das Gefühl hatte, dass diese ihr mehr beibrachte als Miss Hadeland. Manchmal ertappte sie sich dabei, dass sie sich wünschte, ihre Freundin ihrer Mutter vorzustellen und sie zu ihrer richtigen Musiklehrerin zu machen. Als sie das einmal anbrachte, verfinsterte sich die Miene der Fremden.
»Du darfst ihr auf keinen Fall von mir erzählen.« Ohne dass die Frau die Freundlichkeit in ihrer Stimme verlor, spürte Helen, dass sie dabei war, eine Grenze zu übertreten, und dass sie das ihre Freundschaft zu der Frau kosten könnte.
»Ich verspreche, ich sage nichts«, entgegnete sie rasch. »Ehrlich. Es wäre nur so schön, wenn du meine richtige Musiklehrerin sein könntest. Wenn du hören könntest, wie ich auf der Geige spiele.«
»Das werde ich vielleicht eines Tages«, entgegnete die Frau, doch so traurig, wie sie dreinblickte, schien sie wohl zu glauben, dass das nie passieren würde.
Einige Wochen später bekam Helens Mutter Besuch von ihren Freundinnen und Nachbarinnen. Diese trafen sich unregelmäßig zum Nachmittagstee, immer abwechselnd bei einer anderen Teilnehmerin. Dieses Mal war Ivy Carter mit dem Ausrichten der Kaffeetafel an der Reihe.
Schon einen Tag vorher war sie zusammen mit dem Dienstmädchen und der Köchin in der Küche, um zu backen und Kaffeebohnen zu mahlen. Da sie ohnehin nichts von dem Backwerk, das einen wunderbaren Duft verströmte, naschen durfte, holte Helen die Geige unter ihrem Bett hervor und übte stumm die Griffe, während sie sich die dazugehörigen Klänge vorstellte.
Da der Besuch der Nachbarinnen und Freundinnen auf einen Mittwoch fiel, konnte sie ihre Freundin am Tag zuvor noch einmal sehen, allerdings ließ sie noch viel größere Vorsicht walten, denn ihre Mutter ging an diesem Tag nicht aus, sondern buk, was die Küche hergab.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ihr niemand nachblickte, rannte sie zur Hecke und betrat wenig später den Pavillon. Wieder fand sie die Frau schreibend vor.
»Was schreibst du denn da?«, erkundigte sich Helen, denn wie so oft verstaute ihre Freundin auch diesmal das Heftchen unter ihrem Korsett, das in den vergangenen Wochen begonnen hatte, immer lockerer zu sitzen.
»Ein Tagebuch«, entgegnete die Frau. »Ich schreibe alles nieder, was ich am Tag erlebe.«
»Schreibst du denn auch was von mir?«
»Oh, von dir schreibe ich besonders viel.«
»Warum?«, fragte Helen mit großen Augen.
»Weil ich dich gernhabe und gern mit dir zusammen bin.«
»Darf ich das irgendwann mal lesen?«
Die Frau lächelte sie an. Wieder waren ihre Lippen etwas bläulich, und sie wirkte wie Helens Mutter, wenn sie ihre Migräne hatte.
»Vielleicht. Eines Tages ganz bestimmt, denn ich werde es dir schenken. Dann kannst du darin sehen, wie du als Kind warst, und ich habe auch alle Märchen aufgeschrieben, die ich dir erzählt habe. Wenn du groß bist, kannst du sie deinen Kindern erzählen.«
Das gefiel Helen irgendwie, wenngleich sie Schwierigkeiten hatte, sich vorzustellen, wie sie als erwachsene Frau aussah. Vielleicht wie ihre Mutter? Und würde sie dann immer noch Geige spielen?
Am nächsten Tag konnte Helen nicht üben, denn die Freundinnen ihrer Mutter rückten zum Nachmittagstee an, und sie selbst wurde nicht nur in ein rüschenverziertes Kleid gesteckt, das kratzte und kniff, man erwartete auch, dass sie die ganze Zeit über stillsaß, gute Manieren an den Tag legte und sich freute, wenn die Frauen feststellten, wie groß sie schon geworden war. Dabei wusste Helen nur zu gut, dass sie nicht groß geworden war – für ihren eigenen Geschmack war sie noch viel zu klein. Und sie wusste mit ihren acht Jahren auch genau, dass es Zeitverschwendung war,
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