Der Mondscheingarten
wollte. Vielleicht sollte sie sich nach ihrer Rückkehr ein wenig mehr ins Zeug legen …
Als die Zeiger der Uhr auf die Sieben rückten, trat sie nach draußen auf den Balkon, um dem Morgen beim Erwachen zuzusehen. Auf der Straße unter ihr herrschte bereits reger Betrieb: Männer auf Mofas fuhren Kisten umher, offenbar waren sie unterwegs zum Hafen, wo um diese Zeit begonnen wurde, die schweren Netze einzuholen. Allmählich schwoll der Lärm des Straßenverkehrs, der wie in allen Großstädten nie zur Ruhe kam, wieder an, Rufe wurden von der Straße laut. Ein Lastwagen quälte sich die Straße hinauf und kam vor dem Hotel zum Stehen.
Ein wenig beneidete Lilly die Gäste auf der anderen Seite des Hotels, denn diese konnten auf den Hafen hinausblicken und auf das alte holländische Schiff, das in dem schmalen Flussarm vertäut war. Der dunstige, rosafarbene Morgenhimmel musste herrlich über dem Wasser aussehen.
Als ihr der Straßenlärm zu viel wurde, kehrte sie in ihr Zimmer zurück und checkte noch einmal die Mails, doch Ellen hatte noch nicht geantwortet, und auch Gabriel hatte ihr nicht geschrieben. Wahrscheinlich war jetzt, wo hier die Sonne aufging, drüben in Europa immer noch Abend.
Nach dem Frühstück, um kurz vor zehn, ging sie hinunter in die Hotellobby. Eigentlich war es so gar nicht ihr Stil, mit einem Wildfremden durch eine vollkommen fremde Stadt zu ziehen. Doch der Zahnarzt schien wirklich nichts anderes im Sinn zu haben, als ihr bei der Suche zu helfen – auch wenn sie ihm nur sehr wenig erzählt hatte. War er wirklich einfach nur freundlich und über die Maßen hilfsbereit? Lag es daran, dass die Niederländer ein offeneres Volk waren als die Deutschen?
Tatsächlich entstieg Dr. Verheugen nur wenige Minuten später einem der seitlich offenen Kleinbusse, die Lilly auf dem Weg schon beobachtet hatte und die wohl so etwas wie Taxis waren. Das himmelblaue Fahrzeug war mit dem Airbrush-Gesicht eines Filmpaars geschmückt, das Lilly ein wenig an Plakate aus Bollywood erinnerte.
Sie schulterte ihre Tasche und ging dem Zahnarzt entgegen, der ein blütenweißes, dezent besticktes Hemd und lange Khakihosen trug.
»Guten Morgen, hatten Sie eine gute Nacht?«
»Wie man’s nimmt«, entgegnete Lilly ehrlich. »Ich wollte Ihren Ratschlag ja beherzigen, aber mein Wille war einfach zu schwach.«
»Na, macht nichts, nach der Fahrt in einem der hiesigen Taxi-Vans werden Sie hellwach sein.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Lilly beunruhigt, denn das hörte sich nach allem, aber nicht nach vorsichtiger Fahrweise an.
»Lassen Sie sich überraschen! Das Leben wäre doch langweilig ohne ein bisschen Risiko, oder?«
Als sie das Hotel verließen, erwartete sie ein dichtes Menschen- und Fahrzeuggewirr auf den Straßen. Die schwülwarme Luft war von verschiedenen Gerüchen erfüllt, wobei die Benzinnote überwog.
Zwischen den Minangkabau entdeckte Lilly auch zahlreiche Chinesen und einige Europäer und Inder. Die einheimischen Frauen trugen, wie im Islam üblich, bunte Kopftücher und lange Röcke, einige von ihnen knatterten auf Mofas an ihnen vorbei. In der Ferne entdeckte Lilly das Minarett einer Moschee. Den Ruf zum Gebet hatte sie am vergangenen Abend vor lauter Müdigkeit nicht mitbekommen, dafür aber am Morgen, während sie unter der Dusche gestanden hatte.
An einem Haus entdeckte sie ein langes Stoffbanner, auf das ein ziemlich kitschig aussehendes Liebespaar aufgemalt war.
»Das ist Reklame für einen Kinofilm«, erklärte Verheugen.
»Sieht ja aus wie ein Bollywood-Plakat.«
»Die Leute hier mögen es ähnlich romantisch. Wenngleich die indonesischen Filme doch noch anders sind. Aber manchmal finden Sie hier auch Importe aus Indien. Und natürlich auch unsere Blockbuster, fein säuberlich untertitelt.«
Wie mochte es hier vor mehr als hundert Jahren ausgesehen haben? Lilly stellte sich vor, dass die Menschen sich in Kutschen fortbewegt hatten, vielleicht auch in Rikschas.
Sie dachte an eine der Internetseiten, die sie auf ihrer Suche nach Informationen über das Land abgegrast hatte, und fragte sich, ob es noch immer Hahnenkämpfe gab und ob hier die Schattenspieler, für die Indonesien bekannt war, immer noch ihre bis ins Morgengrauen dauernden Stücke aufführten.
Auf der Straße fuhren neben Motorrädern, Autos, Lieferwagen und Fahrrädern auch jene an der Seite offenen Kleinbusse, die teilweise abenteuerliche Aufbauten hatten. Das Knattern der verschiedenen Motoren wurde von Hupen und
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