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Der Mondscheingarten

Der Mondscheingarten

Titel: Der Mondscheingarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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hier zu sitzen und sich die ganzen seltsamen Geschichten anzuhören, anstatt auf dem Dachboden zu sein und zu üben.
    Helen saß also an der Seite ihrer Mutter auf dem Sofa, ­unterdrückte den Drang, mit den Beinen zu schaukeln, und lauschte den vollkommen langweiligen Gesprächen. Der einzige Trost war, dass sie nun endlich von den Köstlichkeiten, die ihre Mutter gebacken hatte, naschen durfte.
    »Du meine Güte, Mevrouw Carter, wer spielt denn bei Ihnen so göttlich Geige?«, fragte plötzlich eine der Nachbarinnen, nachdem sie ihre Kaffeetasse abgesetzt hatte.
    Ivy Carter zog überrascht die perfekt gezupften Brauen hoch. »Geige? Da müssen Sie sich wohl verhört haben, Me­vrouw Hendriks, hier im Haus gibt es niemanden, der Geige spielt.«
    »Wirklich nicht?«, bohrte die Nachbarin weiter, wobei ihr Blick auf Helen fiel. »Ich habe Ihre Tochter sonst immer Klavier spielen gehört. Sie hat also nicht das Instrument gewechselt?«
    Verwirrt blickte Ivy zu ihrer Tochter. »Helen? Kannst du uns vielleicht erklären, was das zu bedeuten hat? Haben wir neuerdings einen Geige spielenden Geist im Haus?«
    Helen antwortete zunächst nicht. Sie ärgerte sich vielmehr darüber, dass die Nachbarin so gute Ohren hatte. Aber hätte sie nicht wissen müssen, dass man die Geige weithin hören konnte? Und dass kein Geheimnis auf ewig eines blieb?
    Langsam erhob sich Helen von ihrem Stuhl. Dass ihre Mutter verständnislos den Kopf schüttelte, ignorierte sie. Ivy Carter war keine Frau, die sich leicht aufregte, und wahrscheinlich würde sie ihrer Tochter auch nicht folgen. In Anbetracht des Besuchs würde es die Schelte für Helens Verhalten wahrscheinlich erst dann setzen, wenn die anderen Frauen gegangen waren. Aber das machte ihr nichts aus.
    »Helen? Wo willst du hin?«, fragte ihre Mutter. Doch Helen ging unbeirrbar weiter. Sie ließ den Salon mit den staunenden Damen hinter sich, und kaum hatte sie den Flur durchquert, begann sie zu rennen. Schneller, als ihr irgendein Erwachsener hätte folgen können, stürmte sie die Treppe hin­auf. Ihr Herz raste wie verrückt. Was sollte sie tun? Sich verstecken? Warten, bis die Mutter heraufkam und wissen wollte, was los war?
    Als sie die Tür hinter sich ins Schloss geworfen hatte, stand sie minutenlang an den Türflügel gelehnt und lauschte. Nichts tat sich. Keine Schritte polterten die Treppe hinauf, keine Rufe ertönten. War es ihrer Mutter gleichgültig, was sie getan hatte? Oder war sie im Augenblick nur zu gelähmt, um etwas zu unternehmen? Machten ihr die Nachbarinnen Vorwürfe?
    Helen musste etwas tun!
    Mit rasendem Herzen kroch sie unter ihr Bett und holte die Geige hervor. Was soll ich nur tun?, fragte sie stumm das Instrument, während sie den Deckel des Geigenkastens aufklappte und mit ihrem Zeigefinger über die Saiten strich.
    Die Geige antwortete ihr auf ihre Weise: mit einem leisen Geräusch, das sich anhörte, als würde der Wind an einer Hausecke vorbeistreichen. Bedeutete das etwa, dass es Zeit war, das Geheimnis zu lüften? Aber was war mit der fremden Frau? Sie hatte ihr doch gesagt, dass sie niemandem etwas erzählen durfte. Wie sollte sie das jetzt weiter tun, nachdem die Nachbarin sie bereits gehört und die Geige ihr Geheimnis verraten hatte?
    In dem Fall durfte sie doch nicht als die Schuldige angesehen werden, wenn sie das Versprechen brach!
    Nach einigen Minuten stand ihr Entschluss fest – und gleichzeitig fühlte sie eine tiefe Erleichterung in sich. Ein Geheimnis zu bewahren war sehr schwierig, besonders vor den Menschen, die man liebte!
    Helen klappte den Koffer wieder zu, umklammerte seinen Griff und trug ihn dann nach draußen.
    Von unten hörte sie aufgeregtes Geplapper. Die Frauen redeten auf ihre Mutter ein, einige sprachen davon, dass Helen schlecht erzogen sei, andere waren neugierig, was das alles zu bedeuten hatte.
    Als Helen durch die Tür trat, wurde es plötzlich still. Alle Augen richteten sich auf sie, doch niemand sagte etwas. Nachdem sie sie gemustert hatten, wanderten die Blicke auf die Geige neben ihr.
    Helen wusste, wenn sie sie behalten wollte, musste sie den Anwesenden zeigen, dass sie spielen konnte. Ansonsten würde ihre Mutter verlangen, dass sie die Geige wieder hergab. Doch das wollte sie auf keinen Fall.
    Langsam, die Blicke der Frauen ignorierend und auch die Frage ihrer Mutter, was das zu bedeuten habe, stellte Helen den Koffer auf dem Boden ab, ließ das Schloss aufschnappen und holte die Geige hervor.
    Ein Raunen ging

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