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Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Titel: Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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des Reverends bestimmt zu geselligen Liederabenden ums Klavier versammelt oder sich vor einem fröhlichen Kaminfeuer auf den üppig gepolsterten Stühlen und Liegesofas gerekelt hatte, wenn der Nordwind heulte, hier stellten wir uns dem letzten, entsetzlichen Anblick: In der Mitte des Zimmers lag in einem Haufen eine kopflose Leiche und hielt die Überreste eines Säuglings an die Brust gepresst. Ihr Morgenrock, der einst weiß gewesen war, lag in einer Blutlache auf dem Boden, wo ihre Beine hätten sein sollen. Ein Bein entdeckten wir teilweise zerfetzt unter dem zerbrochenen Fenster, das auf den kleinen Weg hinausblickte, der zum Haus führte. Das andere war nirgends zu finden – ebenso wie ihr Kopf, obwohl der Doktor mich auf die Suche danach schickte und ich auf Händen und Knien durchs Zimmer kroch, um unter den Möbeln nachzusehen. Er untersuchte die Leiche der Mutter, während Morgan in der Tür stehen blieb und sein schwerer Atem die Zipfel seiner behelfsmäßigen Schutzmaske flattern ließ.
    »Beide Schultern wurden luxiert«, sagte der Doktor. Erfuhr mit den Händen an den Armen der Frau hinunter und drückte dabei mit geschickten Fingern in das noch geschmeidige Fleisch. »Der rechte Humerus ist gebrochen.« Er untersuchte nun die Finger, die den winzigen Körper umklammerten. »Fünf Finger gebrochen, zwei an der rechten Hand, drei an der linken.«
    Mit vor Anstrengung zusammengebissenen Zähnen versuchte er, ihr das Baby aus den Händen zu stemmen. Da diese Bemühungen vom Eigensinn der Leichenstarre vereitelt wurden, gab er nach und untersuchte den Säugling, ohne ihn aus den erstarrten Armen seiner Mutter zu entfernen.
    »Multiple Punktions- und Lazerationswunden«, sagte er. »Aber der Körper ist vollständig. Das Mädchen ist entweder verblutet oder seine Lunge wurde zerquetscht. Oder es wurde von der Brust seiner Mutter erstickt. Eine grausame Ironie, sollte das der Fall sein.
    Wie stark ist doch der Mutterinstinkt, Will Henry! Obwohl sie ihr die Schultern aus den Gelenkpfannen gerissen und dabei die Knochen, die sie festhielten, gebrochen haben, hat sie ihr Kind nicht preisgegeben. Sie hielt es fest. Obwohl sie ihr die Arme brachen und den Kopf abrissen, hielt sie es dennoch fest. Hielt fest! Selbst als sie zur grausamen Imitation der Wesen wurde, die ihre Nachkommenschaft verschlangen, hielt sie fest! Es ist ein Rätsel und ein Wunder.«
    »Sie werden mir verzeihen, Warthrop, wenn ich das, was sich hier zugetragen hat, in keiner Weise als wunderbar betrachte«, sagte der Wachtmeister angewidert.
    »Sie missverstehen mich«, entgegnete Warthrop. »Und Sie urteilen vorschnell über Dinge, von denen Sie nichts wissen. Verurteilen wir den Wolf oder den Löwen? Tadeln wir das wilde Krokodil, weil es den Befehlen des Entwurfs der Natur gehorcht?«
    Während er sprach, betrachtete der Doktor die blutige Pieta zu seinen Füßen, und seine Haltung war jetzt ganz introspektiv und distanziert, sein Gesicht eine unergründliche, gefühllose Maske. Welche Stürme, falls überhaupt, tobten unter der Oberfläche dieser eisigen Fassade? Erinnerte ihn das makabre Tableau an die Worte, die er erst vor wenigen Stunden gesagt hatte? Der bedauerliche Mr.   Gray sollte ihren Appetit gestillt haben, wenigstens noch für ein oder zwei Tage . Worte, die mit derselben typischen Selbstsicherheit gesagt worden waren, die ihm oft fälschlich als Arroganz ausgelegt wurde – oder wäre es doch kein Fehler, es so zu nennen? Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich diesen Mann verstand, dem ich so viel verdanke, diesen Mann, der den obdachlosen, verwaisten Jungen nahm und ihn zu dem Mann formte, der aus mir geworden ist. Wie oft retten sie uns oder richten uns zugrunde, aus Launenhaftigkeit oder mit Absicht oder einer Kombination von beiden, die Erwachsenen, deren Obhut wir uns anvertrauen! Die Wahrheit ist, ich gebe es zu, dass ich ihn nicht verstand. Auch mit dem Geschenk von viel Zeit und dem Blick für die Dinge im richtigen Verhältnis, den sie uns gewährt, verstehe ich Dr. Pellinore Xavier Warthrop immer noch nicht. Glaubte er ernsthaft das oben Erwähnte, dass er schuldlos an dieser entsetzlichen Abschlachtung von sechs Unschuldigen war? Von welchen Windungen und Verzerrungen der Logik machte er Gebrauch, um den Symbolgehalt von Stinnets Blut an seinen Händen zu ignorieren? Oder sah er, mit demselben mitleidlosen Blick, der auch Eliza Bunton zuteilgeworden war, auf die Tatsachen, um zu dem Schluss zu

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