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Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Titel: Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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Licht des Frühlings überflutet wurde, wellige grüne Hügel und saftige Wiesen, die vor Blüten strotzten. Sie haben den alten Mann gefunden – oder was von ihm noch übrig ist – und das Mädchen – oder was von ihr noch übrig ist , dachte ich und fragte mich, ob der Doktor dasselbe dachte. Er bringt uns wieder zum Friedhof.
    Ich war überrascht, als der Kutscher in ein kleines Sträßchen einlenkte, das von der Old Hill Cemetery Road abzweigte und uns am Friedhof vorbeiführte – wenn auch die Westmauer in Sicht blieb –, und das Tempo verlangsamte, als das Sträßchen enger wurde und das Gelände anstieg. Die an Kraft gewinnende Sonne war warm, und eine sanfte Brise wehte durch die offenen Fenster. So leicht sie auch war, sie trug den widerwärtigen Gestank fort, der von meiner anderen Seite ausging. Ich konnte Geißblatt riechen. Erleichtert atmete ich tief ein.
    Die Atempause war von kurzer Dauer. Auf der Kuppe desHügels zog der Kutscher die Zügel an. Noch bevor wir völlig zum Stehen gekommen waren, sprang Warthrop aus der Droschke. Mehr aus Pflichtbewusstsein (meine Dienste waren ihm schließlich unentbehrlich) denn aus Begierde, dem entgegenzutreten, was der Wachtmeister eine »Scheußlichkeit« genannt hatte, trottete ich ein paar Schritt hinter ihm her. Vor uns, auf der Spitze des Hügels, standen eine Kirche und, einen Steinwurf davon entfernt, das dazugehörige Pfarrhaus, ein Steingebäude mit Giebeldach, in dessen Blumenbeeten Frühlingsblüten in weißer, rosaroter, indigoblauer und goldener Farbenpracht prangten, so idyllisch – und ominös – wie bei dem Haus, in dem die armen Hänsel und Gretel beinah bei lebendigem Leib gebraten worden wären. An der Tür standen zwei Männer, Gewehre in den Armen. Sie versteiften sich bei unserer Annäherung und streichelten mit den Fingern die Abzüge ihrer Waffen, bis sie den Wachtmeister erspähten, der sich hinter uns den Weg hochmühte, und sich wieder entspannten. Ihr Verhalten änderte sich jedoch erneut, als sie den Doktor erkannten; finstere Blicke des Misstrauens und der Furcht verdunkelten ihre Gesichter: Warthrop war kein beliebter Mann in New Jerusalem. Ich habe keinen Zweifel, dass er in einem anderen Zeitalter des Paktierens mit dem Teufel beschuldigt und lebendig verbrannt worden wäre.
    »Gott sei Dank ist heute nicht Sonntag!«, keuchte Morgan, als er, außer Atem von seiner Wanderung, ankam. »Die Herde des guten Reverends wäre in schwerer Bedrängnis, wenn sie in diesem unseligen Tag Beweise für die liebende Vorsehung des Herrn finden wollte.«
    Hinter den Gläsern des Kneifers fielen seine Augen, eulenhaft in jeder Hinsicht bis auf eine, denn es fehlte ihnen die erdentrückte Gelassenheit dieser kühnen Jäger der Lüfte, auf mein Gesicht, und er sagte: »Zwar hat Warthrop auf seinen Reisen zweifelsohne Schlimmeres gesehen, aber du bist nur ein Kind, Will Henry, und an solche Dinge nicht gewöhnt. Du solltest nicht mit uns hineingehen.«
    »Er wird ganz bestimmt mit uns hineingehen«, sagte der Doktor ungehalten.
    »Aber wieso?«, wollte der Wachtmeister wissen. »Wozu sollte das denn gut sein?«
    »Er ist mein Assistent«, antwortete Warthrop. »Er muss sich an solche Dinge gewöhnen.«
    Der Wachtmeister kannte den Doktor zu gut, um den Wortwechsel fortzusetzen. Nachdem er einen schweren Seufzer ausgestoßen und einen letzten Zug von dem wohltuenden Balsam im Kopf seiner Pfeife genommen hatte, nahm er selbige aus dem Mund, reichte sie einem der nervösen Hilfssheriffs, zog sein Schnupftuch aus der Tasche und drückte es sich vor Nase und Mund.
    Meine Gegenwart muss ihn dennoch gestört haben; er sah noch einen Moment lang auf mein nach oben gewandtes Gesicht herab, ehe er leise sagte, wobei die Worte durch das Taschentuch noch zusätzlich gedämpft wurden: »Es gibt keine Worte dafür, Will Henry. Keine Worte!«
    Er öffnete die Tür, über der ein Schild hing, dessen Inschrift ein ironisches Vorwort für das Beinhaus im Innern abgaben: DER HERR IST MEIN HIRTE.
    Sechs Fuß von der Tür entfernt lag, das Gesicht nach unten, beide Arme ausgestreckt, ein Körper, gekleidet in die blutigen Überreste seines Nachthemds. Ihm fehlten beide Beine. Ebenfalls fehlten fünf seiner Finger, zwei der linken, drei der rechten Hand. Der Kopf lag auf einem Arm, fast rechtwinklig zum Körper, denn der Hals war ihm teilweise von den Schultern gerissen worden, sodass die Wirbelsäule, die schlauchförmigen Blutgefäße und die fadenartigen

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