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Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Titel: Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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Sehnen des Bindegewebes freigelegt waren. Sein Hinterkopf war eingeschlagen und das Gehirn, dessen breiige Überreste die Wunde wie gräulicher Quark den Rand einer zerschmetterten Schüssel umringten, ausgeschöpft worden. Während der letzten Nekropsie hatte der Doktor mich in seinem trocknen Dozententon von der außerordentlichen Vorliebe der Anthropophagen für das edelsteder Organe in Kenntnis gesetzt, die Klimax des Entwurfs der Natur, das menschliche Gehirn.
    Das Zimmer roch nach Blut, und in der Luft hing derselbe Brechreiz verursachende Gestank nach faulem Obst, den ich schon auf dem Friedhof wahrgenommen hatte. Die Gerüche bekriegten sich nicht untereinander, sondern vermischten sich vielmehr zu einer magenaufwühlenden Atmosphäre, die einem die Nasenlöcher zu verätzen und die Augen in Brand zu stecken schien. Kein Wunder, dass der Wachtmeister seine Gesichtsöffnungen gleich zu Anfang unserer Expedition abgedeckt hatte.
    Morgan und ich verweilten in der offenen Tür, zögernd sozusagen zwischen den Welten von Licht und Dunkel, doch Warthrop litt nicht an solcher Unlust: Er stürmte auf die Leiche zu, wobei er seine Fußabdrücke in dem klebrigen Blut hinterließ, von dem sie auf allen Seiten wie ein flacher Graben umgeben war, ging neben dem Kopf in die Hocke und beugte sich dicht herab, um die klaffende Wunde zu untersuchen. Er berührte sie. Er rieb Stücke der Hirnmasse zwischen Daumen und Zeigefinger.
    Regungslos verharrte er einen Moment lang, die Unterarme auf die gespreizten Knie gestützt, und betrachtete die Überreste vor sich von oben bis unten. Dann beugte er sich noch tiefer herab, bis er kaum noch das Gleichgewicht halten konnte, und studierte das Gesicht des Opfers oder was davon noch übrig war.
    »Ist das Stinnet?«, fragte er.
    »Es ist der Reverend«, bestätigte Morgan.
    »Und die anderen? Wo ist der Rest der Familie?«
    »Zwei im Wohnzimmer: seine Frau und sein jüngstes Kind, Sarah, glaube ich. Ein weiteres Kind im Flur. Ein drittes in einem der Schlafzimmer.«
    »Und das Kind, das entkommen ist. Damit fehlt noch eins.«
    »Nein, Warthrop. Das fehlende ist hier.«
    »Wo?«
    »Der Junge ist überall um Sie herum«, entgegnete der Wachtmeister mit vor Abscheu und Mitleid belegter Stimme.

    Und so war es. Der Reverend, dessen Körper mehr oder weniger unversehrt geblieben war, hatte unsere Aufmerksamkeit für sich als Ort des Gemetzels ganz in Anspruch genommen, aber rings um ihn, wie Scherben, die von einer schauerlichen Trennschleuder ausgeworfen worden waren, an den Wänden, auf den Fußbodendielen und sogar an der Decke über unseren Köpfen, befanden sich Fragmente und Fetzen menschlichen Fleischs, nicht wiederzuerkennende Klumpen, die mit Blut auf nahezu jede Fläche gekittet waren: Haarbüschel, Eingeweidestückchen, Knochensplitter, Muskelspäne. An manchen Stellen waren die Wände so tropfnass, dass sie buchstäblich sein Blut vergossen. Es war, als wäre das Kind in eine Mühle gestopft und dann in sämtliche Richtungen ausgespuckt worden. Nur ein paar Zoll vom rechten Schuh des Doktors entfernt lag der abgetrennte Fuß des Jungen, das einzige kenntliche Stück, das von den marodierenden Anthropophagen übrig gelassen worden war.
    »Sein Name war Michael«, sagte der Wachtmeister. »Er war fünf.«
    Der Doktor sagte nichts. Die Hände in den Hüften, drehte er sich langsam im Kreis, pirouettierte, um sich einen Überblick über das Blutbad zu verschaffen, wobei seine Miene Faszination und Unvoreingenommenheit zugleich ausdrückte, Erstaunen über die brutale Gewalt des Angriffs widerspiegelte und dennoch von dessen entsetzlichem Grauen unberührt blieb, Herz vom Verstand losgelöst, Gefühle vom Intellekt, der Wissenschaftler reinsten Wassers, der sich von der besonderen Rasse, der er angehörte, unterschied. So stand er da, ein lebendiger Tempel inmitten von Ruinen, die buchstäblich zermalmt worden waren, und was immer er dachte, es blieb in den heiligen Hallen seines Bewusstseins verborgen.
    Der Wachtmeister wurde, möglicherweise wegen der verwirrenden Schweigsamkeit des Doktors in diesem Moment höchster Dringlichkeit, ungeduldig, trat in den Raum und fragte: »Nun? Möchten Sie die andern sehen?«
    Die scheußliche Führung nahm ihren Anfang. Zuerst das Schlafzimmer, wo die ältesten Kinder geschlafen hatten. Dort fanden sich die Reste eines Mädchens, dessen Name, wie der Wachtmeister uns informierte, Elizabeth war, zerfetzt wie ihr Bruder, wenngleich ihr

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