Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Titel: Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
Vom Netzwerk:
darauf.
    »Wer bist du?«, fragte er.
    »Das ist Will Henry«, antwortete der Doktor. »Er ist mein Assistent.«
    Obwohl Malachis Augen auf meinem Gesicht haften blieben, hatte er aufgehört zu sehen. Er war unverkennbar, der Übergang von Sehen zu Nichtsehen, das Schwinden des Fokus oder, besser gesagt, die Neufokussierung auf etwas völlig anderes, etwas, das nur er sehen konnte. Wir kämpften mit diesem unsichtbaren Ding um seine Aufmerksamkeit. Ich wusste nicht, was die anderen dachten; ich persönlich wunderte mich über seinen Zustand. Seine Psyche hatte offensichtlich entsetzliche Wunden davongetragen, doch war er körperlich unversehrt aus dem furchtbaren Überfall hervorgegangen. Wie konnte das sein?
    Der Doktor ließ sich vor ihm auf ein Knie nieder. Die Bewegung lenkte den schwer geprüften Jungen nicht ab; sein Blick blieb auf meine Gesichtszüge fixiert, und er zuckte nicht einmal mit der Wimper, als Warthrop ihm die Hand auf den ausgestreckten Oberschenkel legte. Mit leiser Stimme sagte der Doktor seinen Namen und drückte dabei sanft den schlaffen Muskel unter seinen Fingern, als wollte er ihn von diesem weit entfernten, unzugänglichen Ort zurückrufen.
    »Malachi, kannst du mir erzählen, was passiert ist?«
    Wieder bewegten sich seine Lippen, und kein Laut kam heraus. Sein entrückter Blick verunsicherte mich, doch wie jemand, der auf einen schrecklichen Unfall stößt, konnte ich meine Augen nicht von der fürchterlichen Gravitation seines Starrens losreißen.
    »Malachi!«, rief der Doktor leise und schüttelte diesmal das schlaffe Bein. »Ich kann dir nicht helfen, wenn du mir nicht erzählst –«
    »Waren Sie denn nicht da?«, schrie Malachi. »Haben Sie es denn nicht gesehen?«
    »Doch, Malachi«, antwortete der Doktor ruhig. »Ich habe alles gesehen.«
    »Warum fragen Sie mich dann?«
    »Weil ich wissen möchte, was du gesehen hast.«
    »Was ich gesehen habe.«
    Seine Augen, groß und blau und so unermesslich tief wie der wirbelnde Rachen der Charybdis, weigerten sich, mich aus dem Sog ihrer Gewalt zu entlassen. Er richtete seine Worte an den Doktor, aber er sprach mit mir:
    »Ich sah, wie der Schlund der Hölle sich auftat und die Brut Satans sich ergoss! Das ist es, was ich gesehen habe!«
    »Malachi, die Wesen, die deine Familie getötet haben, sind nicht übernatürlichen Ursprungs. Es sind Raubtiere, die zu dieser Welt gehören, so irdisch wie der Wolf oder der Löwe, und wir sind, leider, ihre Beute.«
    Falls er den Doktor hörte, so ließ er es sich nicht anmerken. Falls er ihn verstand, so gab er es nicht zu. Er zitterte unkontrolliert unter der Decke. Sein Mund öffnete sich, und jetzt richtete er das Wort an mich: »Hast du es gesehen?«
    Ich zögerte. Der Doktor zischte mir ins Ohr: »Antworte, Will Henry!«
    »Ja«, stieß ich aus. »Ich habe es gesehen.«
    »Ich bin nicht verletzt«, sagte Malachi noch einmal zu mir, als fürchtete er, ich hätte ihn beim ersten Mal nicht gehört. »Ich bin unversehrt.«
    »Ein bemerkenswerter und außerordentlich glücklicher Ausgang deiner Prüfung«, stellte der Doktor fest. Wieder wurde er ignoriert. Mit einem frustrierten Schnauben bedeutete Warthrop mir, näher heranzukommen. Es schien, als wollte Malachi reden, aber nur mit mir.
    »Wie alt bist du?«, fragte er.
    »Zwölf.«
    »Das ist so alt wie meine Schwester. Elizabeth. Sarah, Michael, Matthew und Elizabeth. Ich bin der Älteste. Hast du Geschwister, Will Henry?«
    »Nein.«
    »Will Henry ist ein Waisenkind«, sagte Dr. Warthrop.
    Malachi fragte mich: »Was ist passiert?«
    »Es gab ein Feuer«, antwortete ich.
    »Du warst dort?«
    »Ja.«
    »Was ist passiert?«
    »Ich bin davongelaufen.«
    »Ich bin auch davongelaufen.«
    Sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht; die ausdruckslose Miene blieb; aber eine Träne kroch über die eingefallene Wange. »Glaubst du, Gott wird uns vergeben, Will Henry?«
    »Ich … ich weiß es nicht«, antwortete ich ehrlich. Da ich erst zwölf war, war ich noch ein Novize in den Feinheiten der Theologie.
    »Vater hat es jedenfalls immer gesagt«, flüsterte Malachi. »Wenn wir bereuen. Wenn wir nur darum bitten.«
    Sein Blick wanderte zu dem Kreuz, das an der Wand hinter mir hing.
    »Ich habe gebetet. Ich habe ihn gebeten, mir zu vergeben. Aber ich höre nichts. Ich fühle nichts.«
    »Selbsterhaltung ist deine erste Pflicht und dein unveräußerliches Recht, Malachi«, sagte der Doktor ein bisschen ungeduldig. »Du kannst nicht verantwortlich gemacht

Weitere Kostenlose Bücher