Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo
Tanz miteinander verflochten, bis einer stürzt und wir loslassen müssen, wenn wir nicht beide untergehen wollen.
Ich verbrachte den größten Teil dieses regnerischen Tages im zweiten Stock des alten Opernhauses, in einem höhlenartigen Raum, der einmal ein Tanzstudio gewesen sein mochte, während Warthrop einer Sitzung des Redaktionsausschusses der Encyclopedia Bestia beiwohnte,dem erschöpfenden Kompendium sämtlicher böswilliger Kreaturen, ob groß oder klein, zu dem er gelegentlich etwas beisteuerte. Die Versammlung wurde von einem schlaksigen Mann aus Missouri namens Pelt geleitet, der den beeindruckendsten Schnauzbart sein Eigen nannte, den ich je gesehen hatte. Die ganze Sitzung hindurch mampfte Pelt an Salzkräckern, und ich staunte über seine Fähigkeit, die Krümel daran zu hindern, sich in den komplizierten Knäueln seines Schnurrbarts festzusetzen. Es war dieser selbe Pelt, der später zugeben sollte, dass er der Verfasser des anonymen Briefes war, der unseren jüngsten Ausflug in die einzigartige Wildnis der Monstrumologie in Gang gesetzt hatte.
Nachdem ich in der Nacht zuvor kaum Schlaf gefunden hatte, döste ich auf meinem Stuhl während des monotonen Geleieres der gelehrten Männer ein, indes die neuesten Abhandlungen diskutiert, debattiert und seziert wurden, vor der angenehmen Hintergrundmusik des Regens, der gegen die hohen Bogenfenster prasselte. Es war in diesem Zustand süßen Halbbetäubtseins, als ich einen heftigen Stoß an die Schulter erhielt. Als ich hochschreckte und aufblickte, sah ich Lilly Bates, die auf mich herabstrahlte.
»Hier steckst du!«, flüsterte sie. »Ich habe überall nach dir gesucht. Du hättest mir ruhig sagen können, wo du sein würdest.«
»Ich wusste nicht, wo ich sein würde«, sagte ich wahrheitsgemäß.
Sie ließ sich auf den Stuhl neben mir plumpsen und beobachtete niedergeschlagen, wie ein phlegmatischer kleiner Argentinier mit dem ziemlich bemerkenswerten Namen Santiago Luis Moreno Acosta-Rojas über die armseligen schriftstellerischen Qualitäten von Monstrumologen im Allgemeinen schwadronierte. »Ich verstehe ja, dass sie keine Literaten sind, aber wie können sie solche ungebildeten Menschen sein?«
»Das ist schrecklich langweilig.« Unvermittelt stand Lilly auf und streckte die Hand aus.
»Ich kann den Doktor nicht verlassen!«, protestierte ich.
»Warum nicht? Hast du Angst, er könnte ein Fußbänkchen brauchen?«, fragte sie hämisch. Sie zog mich auf die Füße und zerrte mich zur Tür. Ich warf einen Blick zurück auf meinen Herrn, aber wie üblich bemerkte er nichts von meiner Misere.
»Still jetzt!«, wisperte sie und führte mich zu einer Tür auf der anderen Seite des Flurs, an der ein Schild angebracht worden war: ZUTRITT STRENG VERBOTEN. KEIN AUSGANG.
Die Tür öffnete sich zu einer Treppenflucht, die nach unten führte, wo die Dunkelheit das armselige kleine Licht der Gaslampen schluckte, die auf jedem Treppenabsatz brannten.
»Ich glaube nicht, dass wir da runtergehen sollten«, sagte ich. »Das Schild …«
Sie ignorierte meine Einwände und zog mich hinter sich her, während sie diesen wenig benutzten Schacht hinabstieg, wobei sie sich kaum für die schmalen Stufen oder die Tatsache, dass es kein Geländer gab, interessierte. Die Wände – feucht und mit langen Streifen abblätternder schwarzer Farbe behangen – drückten sich dicht zu beiden Seiten heran. Am untersten Treppenabsatz trat uns eine weitere Tür entgegen, zwei Stockwerke unter der Straße, und ein weiteres Schild:
NUR FÜR MITGLIEDER – KEIN UNBEFUGTER ZUTRITT.
»Lilly …«, setzte ich an.
»Ist in Ordnung, Will«, beruhigte sie mich. »Er schläft jedenNachmittag um diese Zeit ein. Wir müssen einfach nur ganz leise sein.«
Bevor ich fragen konnte, wieso es in Ordnung war, trotz der Schilder, die deutlich darauf schließen ließen, dass es das nicht war, oder fragen konnte, wer jeden Nachmittag um diese Zeit einschlief, drückte sie die Tür mit der Schulter auf und bedeutete mir mit einem ungeduldigen Fuchteln ihrer Hand, ihr zu folgen, was ich, aus Gründen, die mir immer noch unerklärlich sind, auch tat.
Die Tür fiel schallend ins Schloss und tauchte uns in absolute Finsternis. Wir standen auf der Schwelle eines vergessenen Korridors, der direkt ins Allerheiligste der abstoßenden dunkleren Seite der Naturgeschichte führte.
Seine offizielle Bezeichnung war das Monstrumarium (wörtlich »das Haus der Monster«), denn es beherbergte Tausende von
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