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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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beabsichtigte er, an Haaren zu bewahren, was er konnte, und darüber hinaus war es ihm auch egal, wie schlecht er roch.
    Obwohl er weit in den Achtzigern war, hatte er ein sagenhaftes Gedächtnis. Forscher, die nach stundenlangem Wandern durch die labyrinthischen Korridore und bedrückenden staubigen Kammern, die Tausende von Ausstellungsstücken beherbergten, entnervt waren und deren Geduld von dem scheinbar unvollständigen System unbezeichneter Schubladen und nicht etikettierter Kisten, die sich von Boden bis zur Decke stapelten, strapaziert worden war, pflegten auf ihre Beschwerden hin als Antwort die schlichte Frage zu bekommen: »Haben Sie Adolphusgefragt?« Nehmen wir einmal an, Sie wollten die Zehenglieder des seltenen Eismenschen des Svalbard-Archipels untersuchen. Adolphus würde Sie dann ohne Umwege zu deren kleinen Fach führen, das von all den andern in dem kleinen Raum nicht zu unterscheiden war, und sich in der Nähe herumtreiben, solange Sie sie untersuchten, aus Furcht, Sie könnten sie an die falsche Stelle zurücklegen und damit sein gesamtes Verzeichnis über den Haufen werfen.
    Sein Büro befand sich ein Stockwerk über uns, wo er hinter einem Schreibtisch, der begraben war unter Papieren und Büchern und Stücken von verkalkten Substanzen, die einmal gelebt haben mochten oder auch nicht, seine Nickerchen hielt. Das Büro selbst war genauso zerzaust wie er – Stapel über Stapel von Material, die jede zur Verfügung stehende Oberfläche belagerten, darunter auch den größten Teil des Bodens. Ein kleiner, gewundener Fußpfad durch das Gemisch bot die einzige Verkehrsader zu seinem Ruheplätzchen.
    Ein Stockwerk unter dem Ort, wo er an diesem verregneten Novembernachmittag döste, lieferte Lillys Lampe das wenige, was es an Licht gab, um durch das abschreckende Gewirr der engen Gänge des Unteren Monstrumariums zu steuern, mit ihrem schwachen Geruch nach Formaldehyd, ihrer Patina aus Staub und hier und da einer unruhig flatternden Spinnwebe.
    Wir kamen an eine Verbindungsstelle zweier Korridore, und Lilly zauderte, schwenkte die Lampe hierhin und dorthin und kaute auf der Unterlippe herum.
    »Wir haben uns verlaufen«, sagte ich.
    »Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du sollst ruhig sein!«
    Sie nahm den linken Gang, und ich, da mir in dieser Sache wenig Wahl blieb, folgte ihr. Schließlich hatte sie das einzige Licht, und ich hätte diese düsteren Flure wahrscheinlich durchwandern können, bis ich vor Erschöpfung zusammengebrochen und elend verhungert wäre. Bald gelangten wir an eine Tür mit der – wie ich fand, nichts Gutes ahnen lassenden – Aufschrift: NICHT KLASSIFIZIERTE 101.
    »Hier ist es. Hier ist es, Will! Bist du bereit?«
    »Bereit wofür?«
    »Ich habe mir das zum Geburtstag gewünscht, und stattdessen habe ich ein blödes altes Buch gekriegt!«
    Sie stieß die Tür auf, und ein sehr vertrauter Geruch stürmte in den engen Korridor. Ich war in meinem Dienst für den Monstrumologen schon viele Male von ihm überfallen worden – dem unverkennbaren Beweis für biologische Funktionen –, dem Geruch von Tierausscheidungen und verfaulendem Fleisch.
    Drei Wände des kleinen Raums wurden von aufeinandergestapelten Stahlkäfigen gesäumt, von denen die meisten leer waren – abgesehen von einem bisschen feuchten Stroh und einem trockenen Trinknapf in jedem –, aber ein paar hatten Bewohner, die in die tröstlichen Schatten ihrer Gefängnisse huschten oder die Schnauzen fest gegen das Drahtgeflecht drückten und mit Geifern und Zähnefletschen und animalischer Wut auf unser Eindringen reagierten. Um welche Art von Organismen es sich handelte, konnte ich nicht sagen; die Käfige waren nicht beschriftet, und ich hatte nicht die Gesamtheit des monstrumologischen Kanons im Kopf. Hier sah ich die Flamme in wilden Augen widergespiegelt, dort einen Brocken Fell oder geschuppter Haut, eine Kralle, die am Eisendraht zerrte, die Spitze einer Schlangenzunge, die das Sicherheitsschloss auf Schwächen hin zu untersuchen schien.
    Lilly beachtete den Lärm nicht und ging geradewegs zu einem Tisch an der Wand gegenüber, auf dem ein rechteckiges Behältnis aus dickem Glas stand. Sie stellte die Lampe daneben ab und bedeutete mir, näher zu kommen.
    In dem Terrarium sah ich eine drei Zoll dicke Schicht feinen Sands, eine Untertasse, die mit einer viskosen Flüssigkeit gefüllt war, welche Blut ähnelte, und mehrere große Steine – eine Wüstenlandschaft im Kleinen. Etwas Lebendiges konnte ich jedoch

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