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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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stundenlang – manchmal tagelang – am Stück allein ließ.

ACHTZEHN
    »Was habe ich, wofür es sich zu leben lohnt?«

    An jenem Abend hatte ich aufgewärmte Linsensuppe und kalten Lammbraten zum Abendessen, welches ich in der von helrungschen Küche in Gesellschaft des Butlers, Bartholomew Gray, einnahm. Er war ebenso freundlich wie würdevoll und lenkte mich einfühlsam mit hundert Fragen über mein Zuhause in Neuengland und Geschichten über den Werdegang seiner Familie von der Sklaverei im tiefen Süden bis hin zum Leben in der großartigen »strahlenden Stadt auf einem Hügel«, New York, von meinem Kummer ab. Sein Sohn, teilte er mir stolz mit, war im Ausland, wo er studierte, um Arzt zu werden. Während meines Nachtischs aus frischen Erdbeeren mit Vanillesoße tauchte Lilly auf, um offiziös zu verkünden, dass ich im Zimmer neben ihr schlafen werde und sie hoffe, dass ich nicht schnarche, weil die Wände recht dünn seien und sie einen sehr leichten Schlaf habe. Sie schien immer noch verstimmt zu sein, weil sie verbannt worden war, wohingegen ich mich einer Audienz bei dem schwer geprüften John Chanler hatte erfreuen dürfen. Ich dachte an das Geschenk ihres Onkels und das Leuchten in ihren Augen ob seines makabren Inhalts. Ich vermutete, sie hätte nur allzu gern mit mir getauscht.
    Um kurz nach eins am folgenden Morgen holte mich mein Verhängnis ein – das Schicksal, das verlangte, dass ich in genau dem Moment gestört wurde, da ich eindöste. Die Tür zu meinem Zimmer öffnete sich und ließ den launenhaften Tanz einer Kerzenflamme sehen, der Lilly in ihrem Morgenrock folgte. Ihreüppigen Locken waren von ihren Bändern befreit worden und fielen ihr in Kaskaden auf den Rücken.
    Ich zog die Decken hoch bis ans Kinn. Ich war befangen wegen meines Aussehens, weil ich eins von von Helrungs Nachthemden trug und er, wenngleich ein kleiner Mann, viel größer war als ich.
    Wir betrachteten einander einen Augenblick lang im flackernden Kerzenschein, und dann sagte sie ohne Einleitung: »Er wird sterben.«
    »Vielleicht auch nicht«, antwortete ich.
    »Oh nein. Er wird sterben. Man kann es riechen.«
    »Was riechen?«
    »Deshalb hält Mr. Skala auch Wache. Onkel sagt, wir müssen bereit sein.«
    »Bereit wofür?«
    »Man muss schnell sein, sehr schnell, und man kann nicht einfach alles benutzen. Es muss Silber sein. Und deshalb trägt er dieses Messer. Es ist versilbert.«
    »Was ist versilbert?«
    »Das Messer! Das Mikov-Schnappmesser mit dem Perlengriff. Wenn es also passiert –«
    Sie machte die Bewegung des Schneidens über ihrem Herzen.
    »Das wird der Doktor nicht geschehen lassen.«
    »Das ist schon sehr merkwürdig, Will – wie du von ihm sprichst. ›Der Doktor‹. Ganz leise und ehrfürchtig – als würdest du von Gott sprechen.«
    »Ich wollte nur sagen, wenn es irgendetwas gibt, das er tun kann, dann wird er ihn nicht einfach sterben lassen.« Ich vertraute ihr das Bemerkenswerteste an jener bemerkenswertesten Szene im Krankenzimmer an – die Tränen in den Augen des Monstrumologen.
    »Ich habe ihn noch nie weinen sehen – nie! Er war manchmal nahe dran« – Ich bin ein Staubkorn –, »aber da ging es immer nur um ihn selbst. Ich glaube, er hat Dr. Chanler sehr gern.«
    »Meinst du? Ich nicht. Ich glaube, er hat ihn überhaupt nicht gern.«
    »Nun, ich glaube nicht, dass du irgendetwas über ihn weißt.« Allmählich wurde ich wütend.
    »Und ich glaube nicht, dass du überhaupt etwas weißt!«, versetzte sie. Ihre Augen funkelten vor Entzücken. »Zufällig in die Donau gefallen! Er ist runtergesprungen und wär fast ertrunken!«
    »Das weiß ich«, sagte ich. »Und Dr. Chanler hat ihn gerettet.«
    »Aber weißt du auch, wieso er gesprungen ist? Und weißt du, was passiert ist, nachdem er gesprungen ist?«
    »Er wurde sehr krank, und da lernten sich Muriel und John kennen, über seinem Krankenbett«, sagte ich mit einem Unterton von Triumph in der Stimme. Ich würde ihr schon zeigen, wer nicht alles wusste!
    »Das ist aber nicht alles. Das ist fast nichts. Sie waren verlobt, um zu heiraten, und –«
    »Das weiß ich auch!«
    »Na schön, aber weißt du auch, warum sie’s nicht getan haben?«
    »Der Doktor ist anlagebedingt nicht dafür geeignet«, sagte ich, indem ich Warthrops Begründung nachbetete.
    »Und wieso hat er ihr dann überhaupt erst einen Antrag gemacht?«
    »Ich – ich weiß nicht.«
    »Siehst du? Du weißt gar nichts!« Sie grinste breit; ihre Wangen bekamen

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