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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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Grübchen.
    »Na gut«, seufzte ich. »Wieso hat er ihr einen Antrag gemacht?«
    »Ich weiß es nicht. Aber er hat, und am nächsten Tag ist er dann von der Kronprinz-Rudolf-Brücke gesprungen. Er hat eine Gallone Donauwasser geschluckt und eine Lungenentzündung gekriegt und eine eitrige Rachenentzündung, hat Blut gehustet und Eimer voll schwarzer Galle erbrochen. Er wär fast gestorben, hat Onkel gesagt.
    Sie waren wahnsinnig schrecklich ineinander verliebt. Sie waren das Pärchen, hier und auf dem Kontinent. Er sieht ziemlich gut aus, wenn er sich zurechtmacht, und sie ist schöner als Helena, deshalb dachten alle, sie passen perfekt zusammen. Nachdem Dr. Chanler ihn aus dem Fluss gefischt hatte, kam sie und saß Tag und und Nacht an seinem Bett. Sie rief ihm zu, und er rief ihr zu, obwohl sie direkt nebeneinander saßen!«
    Sie fuhr sich mit den Fingern durchs dichte Lockenhaar und blickte träumerisch in die Ferne.
    »Onkel hatte Pellinore Muriel vorgestellt, deshalb gab er sich die Schuld daran, was passiert war. Als es deinem Doktor nach zwei Wochen in Wien nicht besser ging, verfrachtete Onkel ihn zu einem Balneologen in Teplitz, und das war der Punkt, wo die Dinge sich richtig schlecht entwickelten.«
    Um des dramatischen Effekts willen hielt sie inne. Ich merkte, wie ich gegen das Bedürfnis ankämpfte, sie bei den Schultern zu packen und den Rest der Geschichte mit Gewalt aus ihr herauszuschütteln. Wie oft überkommt uns unser Verlangen unversehens – und aus welchen unvermuteten Verstecken! Es gab so viel an dem Mann, was vor mir verborgen war – verborgen bis zu diesem Tag, gebe ich gerne zu. Und jetzt auch nur den flüchtigsten Blick hinter diesen schweren Vorhang erhaschen zu können …!
    »Er hörte auf zu essen«, fuhr sie fort. »Er hörte auf zu schlafen. Er hörte auf zu sprechen . Onkel war außer sich vor Sorge. Einen ganzen Monat lang ging das so weiter – das stumme Dahinsiechen Pellinores –, bis eines Tages Onkel zu ihm sagte: ›Du musst dich entscheiden. Willst du leben oder willst du sterben?‹ Und Pellinore sagte: ›Was habe ich, wofür es sich zu leben lohnt?‹ Und Onkel antwortete: ›Das, Pellinore, kannst nur du entscheiden.‹ Und dann … entschied er sich.«
    »Wozu?«, flüsterte ich. »Wozu entschied er sich?«
    »Er entschied sich zu leben natürlich! Ach, ich fange an zu glauben, dass du tatsächlich begriffsstutzig bist, William Henry. Natürlich entschied er sich zu leben, sonst wärst du ja wohl nicht hier, oder? Es war nicht das perfekte Ende. Das perfekte Endewäre gewesen, wenn er sich fürs Gegenteil entschieden hätte, weil es die beste Art von Liebe ist, die tötet. Liebe ist nichts wert, wenn sie nicht tragisch ist – schau dir Romeo und Julia an oder Hamlet und Ophelia. Dort ist es für jeden klar zu sehen, der nicht zu begriffsstutzig dafür ist.«
    Der Doktor kehrte kurz nach zehn an jenem Morgen zurück, mit leicht zerknittertem Anzug und einer schwarzen Krawatte, die genau so gebunden werden musste und jetzt schlaff über dem Kragen baumelte und mit dunkelgrünen Flecken gesprenkelt war – vermutlich dem Erbrochenen seines Freundes. Als ich mich erkundigte, wie es Dr. Chanler ging, erwiderte er knapp: »Er lebt« und sagte sonst nichts.
    Der Tag war bewölkt angebrochen; ein stürmischer Wind aus Norden führte ein Übermaß an schlechten Erinnerungen mit sich. Von Helrung und Lilly begleiteten uns zur Kutsche. Als Warthrop Bartholomew Gray auf dem Kutschbock des Hansoms erblickte, wandte er sich an seinen alten Mentor.
    »Wo ist Skala?«, wollte er wissen.
    Von Helrung brummte eine vage Antwort, und das Gesicht des Doktors verdunkelte sich vor Ärger. »Falls du ihn wie irgendeinen affenartigen Todesengel dorthingeschickt hast, Meister Abram, werde ich ihn von der Polizei aufgreifen lassen!«
    Von Helrungs Erwiderung hörte ich nicht; Lilly hatte sich mich geschnappt.
    »Wirst du heute auf dem Kongress sein?«, fragte sie.
    »Ich nehme an«, sagte ich.
    »Gut! Onkel hat versprochen, mich auch mitzunehmen. Ich werde nach dir suchen, Will.«
    Bevor ich ihr meinen von Herzen kommenden Dank für diese wundervolle Neuigkeit aussprechen konnte, zerrte der Doktor mich in die Kutsche.
    »Geradewegs zur Gesellschaft, Mr. Gray!«, rief er, indem er mit dem Knauf seines Spazierstocks heftig ans Verdeck stieß. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er sah nicht vielgesünder aus als seine sterbende Last im Bellevue. So sind wir in einem schicksalhaften

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