Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Titel: Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
Vom Netzwerk:
oben.
    »Wie weit noch?«, fragte ich Rimbaud.
    »Wir sind fast da.«
    Nach diesem letzten Aufstieg ruhten wir uns einen Moment lang aus, in einem Stückchen Schatten unter einem Torbogen, der in eine sechs Fuß hohe Steinmauer gehauen war, die sich in einem Bogen in beide Richtungen hinzog, bis sie den Blicken entschwand, eine Barriere, die den heiligen Ort aus Sonne und Felsen und stummen Steinwächtern hoch über der See umschloss.
    Wir saßen mit dem Rücken gegen den kühlen Stein gelehnt da, und Rimbaud schlang die hageren Arme um die angewinkelten Knie und blickte versonnen in die Stadt hinab, die sich in die gesprengten Eingeweide des toten Vulkans schmiegte.
    »Nun, was meinst du?«, fragte er. »Der beste Ausblick in Aden!«
    »Haben Sie mich deshalb hier hochgebracht, um mir den Ausblick zu zeigen?«, versetzte ich. Ich war schwach vom Aufstieg, überhitzt und entsetzlich durstig. Wieso hatte ich zugestimmt, mit ihm zu kommen? Ich hätte im Hotel bleiben sollen!
    »Nein, aber ich dachte mir, es würde dir gefallen«, sagte er. »Du befindest dich am Eingang zum Tour du Silence, dem Turm des Schweigens, von den Parsen Dakhma genannt. Es ist wie gesagt ein heiliger Ort, der Außenstehenden verboten ist.«
    »Wieso haben Sie mich dann hierhergeführt?«
    »Um ihn dir zu zeigen«, sagte er langsam, als spräche er mit einem Einfaltspinsel.
    »Aber wir sind doch Außenstehende.«
    Er stand auf. »Ich stehe außerhalb von nichts.«
    Es waren keine Wachposten aufgestellt, keine Wächter, die den Eingang besetzten oder über das Gelände des Dakhma patrouillierten. Dakhma gehörte nicht den Lebenden; wir waren hier die Eindringlinge. Unsere Annäherung an den Turm wurde nur von den Krähen und Schwarzmilanen und einigen großen weißen Vögeln wahrgenommen, die ohne Anstrengung in den Aufwinden der überhitzten Luft dahinglitten.
    »Sind das Adler?«, fragte ich.
    »Das sind die weißen Bussarde des Jemens«, antwortete Rimbaud.
    Der Dakhma nahm das andere Ende des Geländes ein; er stand auf dem höchsten Punkt des Plateaus. Es war ein einfaches Bauwerk – drei gewaltige, sieben Fuß dicke konzentrische Steinkreise, in deren kleinsten, innersten Ring eine Grube gegraben war, und das Ganze war zum Himmel hin offen.
    »Dies ist der Ort, wo die Zoroastrier ihre Toten hinbringen«, sagte Rimbaud ruhig. »Man kann sie nicht verbrennen; das würde das Feuer verunreinigen. Man kann sie nicht begraben; das würde die Erde besudeln. Die Toten sind nasu , unrein. Also bringt man sie hierher. Man bahrt sie auf dem Fels auf, die Männer oben auf dem äußeren Ring, die Frauen auf dem zweiten, die Kinder auf dem letzten, dem, der dem Zentrum am nächsten ist, und lässt sie zum Verwesen hier. Und wenn ihre Knochen von den Vögeln sauber gepickt und von der Sonne gebleicht worden sind, dann bringt man sie ins Ossuarium am Grund, bis sie vom Wind zu einer Handvoll Staub zermahlen werden. Es ist das Dakhma-nashini , das zoroastrische Leichenbegängnis.«
    Er bot mir an, mich ins Innere zu bringen, damit ich es mir ansehen könnte.
    »Es ist niemand in der Nähe, und die Toten wird es nicht scheren.«
    »Ich glaube nicht, dass ich sie sehen will.«
    Eine plötzliche Brise streichelte unsere Wangen. Der Gestank des Todes kam nicht bis hierher, wo wir standen; er stieg von den Felsvorsprüngen zwanzig Fuß über unseren Köpfen auf und wurde von demselben Wind davongeweht, der unsere Wangen streichelte und die weißen Bussarde und die Schwarzmilane und die Krähen trug. Ihre Schatten jagten über die graslosen Felsen.
    »Wieso ist diese Stelle Ihr Lieblingsplatz?«, fragte ich ihn.
    »Weil ich ein Wanderer bin, und nachdem ich die Erde durchstreift habe und auf ihr umhergewandert bin, kam ichschließlich an diesen Ort, den Teil, nach dem es nichts mehr gibt. Ich kam ans Ende, und deshalb liebe ich diesen Ort und deshalb verachte ich ihn. Wenn man im Zentrum von allem angekommen ist, ist nichts mehr übrig, nur noch die Knochengrube im innersten Ring. Dies ist das Zentrum der Erde, Monsieur Will Henry, und wohin kann ein Mann noch gehen, wenn er erst einmal im Zentrum angelangt ist?«
    * * *
    Ich war mir sicher, dass der Doktor auf uns warten würde, wenn wir wieder im Grand Hotel De L’Univers einträfen. Sicher auch, dass er wütend auf mich wäre, weil ich ohne ein Wort zu irgendjemandem mit dem Franzosen losgezogen war. Ich war wütend auf mich, weil ich es gemacht hatte, und konnte nicht begreifen, wieso ich es getan hatte.

Weitere Kostenlose Bücher