Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes
höflicher Junge auch. Das mir gefallen. Jetzt wir fangen noch einmal an. Wo sein Warthrop?«
»Er ist in die Stadt gegangen.«
»Aber er kommen zurück – dich holen.«
»Ja. Er wird zurückkommen, um mich zu holen.«
»Wann er kommen zurück?«
»Das weiß ich nicht. Er hat es nicht gesagt.«
Rurick grunzte. Er sah Plešec an. Plešec nickte und steckte das Messer weg.
»Wir mit dir auf ihn warten«, entschied Rurick. »Sein nett hier im Schatten. Nette Brise, kein Gestank nach totem Fisch.«
Es war das Beste, worauf ich in einer nahezu hoffnungslosen Lage hoffen konnte. Vielleicht würde Rimbaud wach werden und wieder nach unten kommen. Ich dachte daran, vom Tisch aufzuspringen und irgendwie übers Geländer zu springen und es darauf ankommen zu lassen, ob ich den Kai erreichen konnte, ohne dass Rurick mir eine Kugel in den Hinterkopf jagte. Ich kam zu dem Ergebnis, dass die Chance außerordentlich gering war. Aber wenn ich nicht weglief, wenn ich nichts tat und Rimbaud nicht aufstand, ehe der Doktor zurückkam, war Warthrop dem Tod geweiht.
Zwei Türen. Hinter der einen, die Lady. Hinter der andern, der Tiger. Welche sollte er wählen?
Ich beobachtete, wie eine Meerschwalbe in die Brandung eintauchte und mit einem glänzenden, zappelnden Fisch im Schnabel wieder auftauchte. Ich blickte weiter hinaus und sah den Rand der Welt, die Linie zwischen Meer und Himmel.
Es ist ein wesentlicher Bestandteil des Geschäfts, Will Henry. Irgendwann verlässt einen das Glück.
Eine Möwe schoss von ihrem Wachposten am Ufer auf; ihr Schatten war lang und flüchtig auf dem von der Sonne polierten Strand. Ich erinnerte mich an die Schatten der Aasvögel auf den nackten Felsen am Zentrum der Welt. Wenn man im Zentrum von allem angekommen ist, ist nichts mehr übrig, nur noch die Knochengrube im innersten Ring.
»Was ist los?«, fragte Rurick. »Warum weinst du?«
»Ich warte gar nicht auf ihn«, gab ich zu. »Er wartet auf mich«, log ich.
* * *
Dies ist die Zeit der Toten. Die Zeit des Dakhma-nashini.
* * *
In der vierzehnten Stunde am zweiten Tag der Woche stirbt ein Junge in den Armen seiner Mutter an Cholera. Ihre Tränen sind bitter; es ist ihr einziger Sohn.
Sein Geist schwebt in der Nähe, aufgewühlt durch ihre Tränen. Er ruft nach ihr, doch sie gibt keine Antwort.
Sie hält ihn fest, bis sein Körper kalt wird, und dann legt sie ihn nieder. Sie legt ihn nieder, denn die Zeit ist gekommen; der böse Geist naht heran, um seinen Körper zu holen, und danach wird sie ihn nicht mehr berühren.
Das nächste Geh wird begonnen. Er ist jetzt nasu , unrein. Es ist Zeit für die Nassesalar. Es ist die sechzehnte Stunde des zweiten Tages.
* * *
»Ich nicht verstehen«, sagte Rurick. »Warum er dich treffen dort oben?«
»Das ist der Ort, wo er sich mit Dr. Torrance trifft.«
»Wer sein Dr. Torrance?«
»Dr. Warthrops Freund. Er hilft uns.«
»Helfen euch machen was?«
»Einen Weg zur Insel zu finden.«
»Welche Insel?«
»Die Insel vom Magnificum .«
Er rang nach Atem. Der Weg war steil; er war nicht an die Hitze gewöhnt.
»Wofür sein diese Gruben?«, fragte er sich laut.
»Um die Stadt vor Überschwemmungen zu bewahren.«
Die trockenen Zisternen waren von tiefen Schatten überflutet; sie schienen keinen Grund zu haben. Wenn man in eine hineinfiel, fiel man vielleicht für immer.
* * *
Die Leichenträger nehmen den Jungen und baden ihn in Taro, dem Urin des weißen Bullen. Sie kleiden ihn in ein Sudreh-Kusti, das Gewand der Toten. Nur sein Gesicht bleibt frei. Er ist nasu , unrein. Der Geist des Jungen sieht ihnen zu und versteht es nicht. Er erinnert sich nicht daran, dass dies sein Körper war. Der Geist ist wieder ein Kleinkind; er hat keine Erinnerung. Es ist jetzt die sechste Stunde des dritten Tages.
* * *
»Wie weit noch?«, fragte Plešec.
»Es ist direkt hinter dem nächsten Anstieg«, antwortete ich.
»Du solltest uns besser nicht anlügen!«
»Dies ist der Ort«, sagte ich.
»Wenn du uns anlügst, werde ich dich ausweiden! Ich werde dir die Eingeweide rausschneiden und sie den Berg runterwerfen!«
»Dies ist der Ort«, sagte ich noch einmal.
* * *
Es ist die Stunde des Geh-Sarna . Die Dasturen beten die Verse des Avestan Mathras über dem Leichnam, um die Seele zu stärken und ihr auf ihrer Reise zu helfen. Nach den Gebeten wird der Leichnam nach oben und in den Dakhma getragen, wo er auf den Fels gelegt wird. Es ist jetzt die zwölfte Stunde des dritten Tages.
* *
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