Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes
mich als Erster. Er schob einen Mann aus dem Weg und kam mit großen Schritten zu mir herüber, um mich mit einer schallenden Ohrfeige zu begrüßen.
»Wo bist du gewesen, Will Henry?«, schrie er. Sein Gesicht war verzerrt vor Wut und aufgestauter Sorge. Ich hatte ihn schon einmal so gesehen. Ich werde nicht zulassen, dass du stirbst! Er packte mich an den Schultern und schüttelte mich grob. »Sag es mir! Wieso bist du einfach so weggegangen? Habe ich dir nicht gesagt, du sollst bei Monsieur Rimbaud bleiben? Wieso hast du nicht auf mich gewartet? Nun? Hast du nichts zu deiner Verteidigung zu sagen? Rede!«
»Es tut mir leid, Sir …«
» Leid ? Es tut dir leid ?« Er schüttelte verwundert den Kopf. Mit einer Hand auf meiner Schulter – vielleicht weil er fürchtete, dass ich ohne zusätzliches Gewicht auf selbiger einfach so wegfliegen könnte – drehte er sich zum Suchtrupp um, setzte die Leute davon in Kenntnis, dass das verlorene Lämmchen heimgekommen war, und dankte ihnen für ihre schnelle Reaktion auf seinen Hilferuf. Sonst sagte er nichts mehr, bis sie gegangen waren, und dann sagte er zu mir: »Ohne weitere halbherzige Entschuldigungen, Will Henry: Erkläre mir bitte, weshalb du dich davongeschlichen hast, ohne irgendjemandem ein Wort zu sagen!«
Ich wich seinem Blick aus. »Ich bin gegangen, um nach Ihnen zu suchen, Sir.«
»Will Henry …«
»Ich habe versucht, Monsieur Rimbaud dazu zu bringen, mich zu begleiten, aber er sagte, er sei müde und wolle ein Nickerchen machen.«
»Und der Grund, warum du es dir in den Kopf gesetzt hast, nach mir zu suchen?«
»Ich dachte …« Die Worte wollten nicht kommen.
»Genau, ich bin daran interessiert, die zu hören – deine Gedanken. Was hast du gedacht? Und falls du gedacht hast, irgendein schlimmes Schicksal hätte mich ereilt, wieso bist du dann allein losgezogen? Ist es dir nicht in den Sinn gekommen, Rimbaud von seinem Nickerchen zu wecken und ihm wenigstens zu sagen , wo du hingehst?«
»Nein, Sir, das ist es nicht.«
»Hm.« Etwas von seinem Ärger war aus seinem Gesicht gewichen. »Nun«, sagte er und entspannte sich ein wenig. »Der Tag scheint rundum ein Erfolg gewesen zu sein, Will Henry, denn du hast mich gefunden, und ich habe für uns eine Überfahrt nach Sokotra gefunden. Wir brechen bei Tagesanbruch zur Insel des Blutes auf.«
* * *
Wir waren beide müde und hungrig, doch der Doktor bestand darauf, zuallererst zum Telegrafenamt hinunterzugehen. Dort angekommen, verschickte er sofort ein Telegramm an von Helrung:
AUFBRUCH MORGEN ZIELORT. PXW.
Es wartete eine Nachricht auf ihn. Er las sie und steckte sie dann ein, ohne sie mir zu zeigen. Ich schloss aus seiner besorgten Miene, dass sie nicht aus Venedig gekommen war. Er war sehr still auf dem Rückweg.
Wir nahmen für die Nacht ein Zimmer im Hotel, zogen uns rasch fürs Abendessen um – wir hatten beide einen Bärenhunger – und teilten letztendlich unseren Tisch mit Rimbaud, der Stillschweigen über unseren Besichtigungsausflug in die Shamsan-Berge über Crater bewahrte. Stattdessen sprach er über seine frühen Tage in Aden und das Kaffeehaus, wo er einen »Harem« von Arbeiterinnen beaufsichtigte, die die Bohnen für die Verschiffung nach Europa vorbereiteten. Der Doktor hörte höflich zu, sprach jedoch selbst wenig. Er war mit den Gedanken anderswo.
Später an diesem Abend wachte ich aus einem leichten Schlaf auf und stellte fest, dass ich allein war. Ein Schatten bewegte sich draußen vor dem Fenster. Ich guckte durch die Holzleisten auf die Veranda. Schemenhaft hob sich die Gestalt des Monstrumologen gegen die silbrige See ab; er hatte das Gesicht nach Osten gewandt und blickte gen Sokotra.
Plötzlich drehte er sich um und spähte den Strand hinunter zum Kai, indes sein Körper sich versteifte und seine rechte Hand in die Manteltasche sank und nach seinem Revolver suchte. Er würde ihn nicht finden, wusste ich.
Sag es ihm , flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Du musst es ihm sagen.
Ich stieg aus dem Bett und zog mich im Halbdunkel an, zitternd, allerdings nicht vor Kälte. Ich hatte noch nie etwas vor ihm verheimlicht – hatte es nie versucht, denn mein Vertrauen in seine Fähigkeit, jede Lüge zu durchschauen, war unüberwindlich.
Ich zog mir gerade die Schuhe an, als der Boden vor der Tür knarrte. In Panik – offensichtlich war es mit meiner Geistesgegenwart für die Nacht vorbei – sprang ich zurück ins Bett und zog mir die Decke bis zum
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