Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Kinn.
    Durch halb geöffnete Augen beobachtete ich, wie er das Zimmer durchquerte und zu dem Stuhl ging, auf den ich achtlos meine Jacke geworfen hatte. Wenn er die Trommel des Revolvers überprüfte, war ich erledigt. Aber welche Rolle spielte das? Ich wollte ohnehin gestehen, oder?
    Er ging ans selbe Fenster, durch das ich ihm nachspioniert hatte, und stand eine ganze Weile mit dem Rücken zu mir da, bevor er sagte: »Will Henry.« Und noch einmal, mit einem Seufzer: »Will Henry, ich weiß, dass du wach bist. Dein Nachthemd liegt auf dem Boden, und deine Schuhe sind abhandengekommen.«
    Ich machte die Augen ganz auf. »Ich habe Sie draußen gesehen und …«
    »Und als du mich zurückkommen hörtest, bist du vollständig bekleidet ins Bett gesprungen.«
    Ich nickte.
    »Meinst du nicht, ein solches Verhalten könnte jemandem sonderbar vorkommen?«, fragte er.
    »Ich wusste nicht, was ich machen sollte.«
    »Also war das Vernünftigste, was dir einfiel, ins Bett zu springen und dich schlafend zu stellen?«
    Er drehte sich zu mir um und sagte: »Ich weiß, wieso du heute Nachmittag weggegangen bist.«
    Ich schluckte schwer. Mein Vertrauen in seine Fähigkeiten war nicht fehl am Platz. Er brauchte mein Geständnis nicht. Er wusste Bescheid.
    »Vertraust du mir, Will Henry?«
    »Natürlich!«
    »Deine Handlungen heute strafen deine Worte Lügen. Wieso hast du gedacht, ich würde nicht zu dir zurückkommen? Ich hatte es dir doch gesagt, und doch bist du weggegangen, um nach mir zu suchen. Und gerade eben, als du gemerkt hattest, dass ich weg war, hast du dir die Kleider übergeworfen, um mir hinterherzuhetzen. Es liegt an New York, nicht wahr? Du erinnerst dich an New York und fürchtest, dass ich dich jeden Moment im Stich lassen könnte. Vielleicht muss ich dir die Unterschiede zwischen New York und diesem Nachmittag darlegen. In New York habe ich kein Versprechen gegeben.«
    Ich hatte unrecht: Der Monstrumologe hatte die Wahrheit nicht erkannt. Ich spürte, wie sich die Bürde wieder auf meine Schultern legte.
    »Ich weiß nicht, was wir auf Sokotra vorfinden werden, Will Henry. Kearns und die Russen sind uns bei dem Schatz zuvorgekommen, und es besteht die Möglichkeit, dass uns der Gral wieder einmal durch die Finger geschlüpft ist. Ich hoffe, dass dem nicht so ist. Ich bete, dass es noch nicht zu spät ist. Wenn es das nicht ist, so müssen du und ich eine Last schultern, die größer ist, als sie die meisten Menschen tragen können. Unsere einzige Hoffnung auf Erfolg liegt nicht in Waffengewalt oder zahlenmäßiger Stärke und nicht einmal sosehr in unserem Verstand. Nein, das hier ist es, was uns retten wird.« Er zog meine linke Hand in seine und drückte sie fest. »Es hat dich in Amerika gerettet, und es hat mich in Englandgerettet, das, worin ich jetzt absolutes Vertrauen setzen muss – das eine, was ich nicht einmal ansatzweise verstehe! Das, was mir mehr Angst macht als die Scheußlichkeiten, auf die ich Jagd mache – das Monster, bei dem ich mich nicht dazu bringen kann, mich umzudrehen und ihm ins Gesicht zu blicken. Wir waren – wir sind – wir müssen einander unentbehrlich sein, Will Henry, oder wir werden beide scheitern. Verstehst du, was ich meine?« Er ließ meine verletzte Hand los, stand auf, wandte sich ab.
    »In der Nacht, als du geboren wurdest, nahm dein Vater mich beiseite und sagte mir mit großer Feierlichkeit – und Tränen in den Augen –, dass dein Name Pellinore sein würde. Er rechnete, glaube ich, nicht mit meiner Reaktion auf diese schmeichelhafte Geste, von der deine Mutter, da bin ich mir sicher, nichts wusste. Ich rügte ihn freimütig und beraubte ihn der Vorstellung, dass ich mich durch die Wahl in irgendeiner Form geehrt fühlen könnte. Mein eigener Ärger brachte mich durcheinander. Ich begriff nicht, wieso sie mich erzürnte, die Vorstellung, dass du meinen Namen tragen würdest. So oft drücken wir unsere Angst als Wut aus, Will Henry, und inzwischen denke ich, dass ich gar nicht wütend war, sondern Angst hatte. Schreckliche, schreckliche Angst.«
    Es war Zeit zu gestehen. Waren nicht meine Handlungen an diesem Tag der unentbehrliche Beweis, dass sein Vertrauen in mich nicht unangebracht war? Ich versuchte es. Mein Mund ging auf, aber es kam, wie bei Rurick, bevor ich ihn tötete, kein Laut heraus. Obwohl ich höchstwahrscheinlich unser beider Leben gerettet hatte, obwohl ich die einzige Tür gewählt hatte, hinter der die Errettung lag, erinnerte ich mich