Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes
müssen wir sie also beide töten.«
»Habe ich das gesagt? Hör mir doch zu! Ihr bleiben noch Stunden. Der Junge könnte noch Jahre haben, wenn wir ihn rechtzeitig von ihr wegschaffen können.«
»Ich werde ihn wegschaffen«, sagte Awaale grimmig. »Ich werde ihn retten, und dann tun Sie, was Sie tun wollen.« Er trat in die Öffnung.
»Nein!« Warthrop packte ihn am Arm und zog ihn zurück. »Wenn du versuchst, ihn ihr jetzt wegzunehmen, läufst du Gefahr, dass sie ihn ungewollt infiziert – oder dich selbst. Es braucht nur den kleinsten Kratzer.«
»Und was schlagen Sie dann vor?«, blaffte Awaale ihn an. Er war am Ende seiner Geduld angekommen.
»Ich … Ich weiß es nicht.« Der Monstrumologe rang nach Luft, als ob er außer Atem sei. »Vermutlich … Wenn ich nahe genug herankommen kann, ein schneller Kopfschuss …«
»Ihre Hände zittern«, wandte Awaale ein. Und das taten sie auch, und zwar schlimm. »Ich werde es machen.«
»Du wirst nicht nahe genug herankönnen«, legte der Doktor dar. »Außerdem bin ich es, dem sie vertraut«, fügte er bitter hinzu.
»Ich werde es tun, Dr. Warthrop.«
Die Männer zuckten zusammen. Ich glaube, sie hatten vergessen, dass ich dort stand. Warthrop quittierte mein Angebot mit fassungsloser, Awaale mit entsetzter Miene. Ich hielt die Hand für den Revolver hin. Anders als die des Monstrumologen zitterten meine Hände nicht.
»Es ist die einzige Möglichkeit, ihn zu retten.«
»Nein. Nein, das werde ich nicht zulassen, Will Henry!«
»Wieso nicht?«
»Weil es eine Sache ist, jemanden in Notwehr zu erschießen. Das hier ist etwas vollkommen anderes.«
»Wieso?«, wollte ich wissen. »Wir dürfen sie nicht am Leben lassen. Wir dürfen ihn nicht sterben lassen. Ich bin nur ein Junge; sie wird keinen Verdacht schöpfen.«
»Ich kann es tun«, sagte der Monstrumologe, doch klang er entschlossener, als er aussah. »Ich sollte es sein.« Er legte eine Hand auf meine Schulter. »Bleib hier bei Awaale, Will Henry.«
Er duckte sich in die Wunde im Berghang hinein. Awaale drehte sich weg. Ich drehte mich um, um zuzusehen.
* * *
Sie sah sehr jung aus im Schein der Lampe, eine Halbwüchsige noch, schätzte ich, und obwohl sie von Kopf bis Fuß mit Dreck überzogen war, war sie schön, in der ersten vollen Blüte der Weiblichkeit. Sie lächelte den Doktor vertrauensvoll an, als er sich neben sie kniete. Er berührte ihre Wange, wobei sein linker Handballen gefährlich nah an ihren Mund kam, während die rechte Hand in seiner Tasche verschwand. Er redete leise auf sie ein und setzte Augen und Tonfall ein, um sie zu beruhigen.Und der Revolver kam zum Vorschein. Er hielt ihn an sein linkes Bein außerhalb ihres Gesichtsfelds. Jetzt , dachte ich. Tu es jetzt!
Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Ich weiß nicht, was sie dort sah, aber sie lächelte weiter, und er redete weiter leise auf sie ein und streichelte ihre Wange, und ich fragte mich, was er wohl sagen mochte. Er hätte alles Mögliche sagen können, wirklich alles, denn sie konnte ihn nicht verstehen. Vielleicht sagte er: »Um deines Kindes willen muss ich das hier tun. Um deines Kindes willen …« Oder: »Mein Name ist ha-Mashchit , und Gott der Herr schuf mich am ersten Tag …«
Seine Hand sank von ihrer Wange. Die andere hob sich nicht. Dann sank er selbst aufs Gesäß und rutschte zurück, bis er an die andere Wand stieß, und dort blieb er, den Rücken gegen den Stein gepresst, die Arme nutzlos an den Seiten. Ich setzte mich in Bewegung, und er hielt die leere Hand hoch. Bleib!
»Was macht er?«, flüsterte Awaale über die Schulter. Er weigerte sich, sich umzudrehen und hinzusehen.
»Er bringt es nicht fertig«, raunte ich zurück.
Awaale grunzte. »Vielleicht irrt er sich ja. Vielleicht ist sie ja gar nicht krank.«
»Nein. Ihre Augen – ich habe es gesehen.«
»Du hast was in ihren Augen gesehen?«
» Oculi Dei , die Augen Gottes.«
»Ich verstehe nicht, walaalo . Was sind die Augen Gottes?«
In der Spalte hob der Monstrumologe den Kopf. Seine dunklen Augen glänzten feucht im Lampenschein. Was sind die Augen Gottes?
»Ich weiß es«, flüsterte Awaale. »Er wartet darauf, dass sie einschläft. Und wenn sie einschläft …«
»Ich weiß nicht, worauf er wartet«, sagte ich. Sein Zögern im Angesicht der Notwendigkeit des Handelns beunruhigte mich zutiefst. Er hatte noch nie zuvor gezögert. Nicht in Gishub. Nicht in der Küche in der Harrington Lane, als er das Fleischermesser hoch
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