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Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Titel: Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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über den Kopf gehoben hatte. Der Monstrumologe warimmer dem Gebot seiner wissenschaftlichen Disziplin gefolgt. Jacob Torrance mochte den Wahlspruch der Gesellschaft am Finger getragen haben, aber Pellinore Warthrop hatte ihn ins Herz eingraviert. Er war, wie Fadil ihn genannt hatte, Mihos , der Löwe, der Hüter des Horizonts. Was hielt ihn auf? Klammerte er sich an etwas – oder musste er etwas loslassen?
    »Ich verstehe diesen Mann nicht, dem du dienst«, sagte Awaale. »Er scheint den Tod zu genießen und ihn zugleich zu fürchten. Er jagt ihm nach wie ein tollwütiger Hund, und dann läuft er vor ihm davon wie ein verängstigtes Kaninchen. Wieso jagt ein solcher Mensch Monster?«
    Er ließ sich neben die Öffnung der Spalte plumpsen, hielt das Gewehr aufrecht zwischen den Knien fest und lehnte den Kopf an den Fels.
    »Ich bin müde, walaalo «, seufzte er.
    »Du kannst schlafen, wenn du möchtest«, sagte ich. »Ich werde wach bleiben.«
    »Ah, aber du vergisst meine Abmachung. Ich bin es, der auf dich aufpassen muss.«
    »Du brauchst nicht auf mich aufzupassen.«
    »Du bist nicht derjenige, vor dem ich mich eines Tages verantworten muss, walaalo «, erwiderte er sanft.
    Ich ließ mich vorsichtig auf den Boden nieder, das Gesicht Awaale zugewandt, sodass ich den Doktor in meinem peripheren Gesichtsfeld behalten konnte. Er hatte sich noch nicht gerührt; die Mutter und das Kind auch nicht. Vielleicht irrte der Doktor sich ja tatsächlich, dachte ich. Nicht, was die Frau anging, sondern das Kind. Wie konnte die Mutter infiziert sein und das Kind nicht? Besser, ihrer beider Leiden jetzt zu beenden. Diese Möglichkeit brachte ich jedoch bei keinem meiner Gefährten zur Sprache; ich saß mit ihr da und überlegte und wartete, während die Nacht um mich herum dunkel wurde und meine Gefährten eindösten. Ich beobachtete, wie die Lider der Frau schwer wurden, beobachtete, wie ihr Kopf nach vorn sank und dann zurückschnellte, als sie gegen die Erschöpfungankämpfte. Ich war hellwach. Ich hätte tausend Nächte wach bleiben können, so fest zusammengerollt war das Ding in mir, das Ungeheuer , das Ich/Nicht-ich, das Ding, das flüsterte: ICH BIN , und das Ding, das in mir danach trachtete – und das in Ihnen danach trachtet – frei zu sein.
    Und während Mihos schlief, erhob sich Ophois.
    * * *
    Da waren das Seufzen des Windes und das Knirschen der zerschmetterten Knochen der Erde und der kalte Stahl des Revolvers und die schlafende Frau. Da war das Baby, das an ihre nackte Brust gedrückt war, und die Sohlen ihrer blutigen, vom Fels zerkauten Füße und der obere Teil ihres Kopfes, der wie sich darbietend in meine Richtung zeigte. Ich hob die Waffe. Brachte sie bis auf einen Zoll an ihre Schädeldecke heran.
    Die Welt ist nicht rund. Der Horizont ist der Gipfel des Abgrunds; es gibt keine Rückkehr.
    Mein Blick fiel auf den Säugling, als ich meinen Finger langsam am Abzug krümmte. Seine Augen schauten zu mir zurück: Er war wach, und er saugte an der Brust seiner Mutter. Panisch schlug mein Herz gegen meine Rippen. Ich ließ den Revolver fallen und zerrte ihn aus ihren Armen.
    Mit einem spitzen Aufschrei fuhr sie aus dem Schlaf hoch und sprang nach vorn, aber ich war schon im Freien und auf dem Weg den Berg hinauf. Es gab kein nennenswertes Licht, um mir den Weg zu weisen, und ich kam nicht besonders weit, ehe ich über einen Stein stolperte und kopfüber hinfiel und mich erst im letzten Moment umdrehen konnte, um das Kind zu schützen. Ihr gespensterhafter Schatten dräute einen langen, schrecklichen Augenblick lang über mir, erstarrt in der Zeit, und in diesem Zeitraum zwischen der einen Sekunde und der nächsten ertönte von oben ein Schuss, und die Mutter fiel tot hin zu Füßen desjenigen, der ihr alles geraubt hatte, was ihr wichtig war. Ich blickte hoch in der Erwartung, den Doktor oder Awaalezu sehen, und sah keinen von beiden, sondern das lächelnde Gesicht dessen, der es begonnen hatte, des Grundes, weshalb ich hier an diesem Ort von Blut und Stein und Schatten war und einen plärrenden Säugling in den Armen hielt, das Gesicht von John Kearns.

Neununddreißig
    »Wie sieht es aus?«

    Mit einem leisen Lachen sprang er von seinem steinernen Ansitz herunter und senkte sofort das Gewehr, als er Awaale und den Doktor mit dem Licht auf uns zulaufen sah. Er streckte die Hände in die Luft.
    »Nicht schießen; ich bin sauber!«, rief er mit dieser unverwechselbaren löwenartigen Schnurrstimme. »Meine

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