Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Titel: Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
Vom Netzwerk:
Jahrtausends.
    Ich klopfte meine leeren Taschen nach dem Revolver ab.
    Wo ist der Revolver? Er hatte vergessen, ihn mir zurückzugeben, oder, wie er zweifelsohne sagen würde, ich hatte vergessen, ihn danach zu fragen.
    Ich wusste, ich sollte weitergehen. Instinktiv begriff ich, wo mein Heil lag. Aber es ist menschlich, sich an den Hauptmast zu binden, Lots Frau zu sein, sich umzudrehen.
    Ich drehte mich um.

Sieben
    »Willst du leben?«

    Es sprang von der obersten Stufe, eine stinkende Gruft aus vorstehenden Knochen und zerschundener Haut und blutroten, eitertropfenden Muskeln, ein klaffendes Maul, behangen mit einer Wucherung zerklüfteter Zähne, und den schwarzen Augen der Hölle.
    Der Einstmals-Kendall krachte in mich hinein, rammte mir die Schulter in die Brust, und die schwarzen Augen rollten in ihren Höhlen wie die Augen eines Hais, wenn er im Rausch des Tötens angreift. Ich schlug mit den Fäusten blindlings nach seinem Gesicht; meine Knöchel prallten gegen die spitzen, knochigen Wucherungen, die aus dem Abfall seines Fleischs hervorgebrochen waren, sodass Knochen auf Knochen traf und mein ganzer Arm vor Schmerz pulsierte.
    Die Kreatur packte mein Handgelenk und schleuderte mich so mühelos, wie ein Junge einen Stock wirft, die letzte Treppenflucht hinunter. Ich landete mit dem Gesicht voran unter lautem Getöse auf dem Boden, gab aber sonst kein Geräusch von mir, denn der Sturz hatte mir sämtliche Luft aus der Lunge gequetscht. Innerhalb eines Herzschlags wurde ich auf den Rücken gerollt, und es war auf mir, so nah, dass ich mein eigenes Gesicht in seinen seelenlosen Augen widergespiegelt sah. Sein Gesicht war nicht das eines Menschen. Tausendmal habe ich in dieses Gesicht geblickt; ich bewahre die Erinnerung daran in einem speziellen Kuriositätenkabinett auf, und von Zeit zu Zeit hole ich sie hervor, wenn der Tag hell ist und die Sonne warmund der Abend in ganz weiter Ferne. Ich hole sie hervor und halte sie. Je mehr ich sie nämlich halte, desto weniger fürchte ich mich vor ihr. Der Großteil der Haut ist weg, zerrissen oder abgeworfen, sodass die darunter befindliche Muskulatur frei liegt, der unwahrscheinlich komplexe – und unwahrscheinlich schöne – Unterbau. Spitzige Hörner aus verkalktem Gewebe ragen aus dem Schädel, zu Dutzenden, wie die nach oben gestreckten Wurzeln von Zypressen, aus den Wangenknochen, der Stirn, den Kiefern und dem Kinn. Es hat keine Lippen. Seine Zunge ist in Fäulnis übergegangen und auseinandergebrochen; nur der Ansatz ist noch übrig. Ich sah die braune, sehnige Masse krampfartig zucken, als der geöffnete Rachen auf mich zukam. Den Rest der Zunge hatte er geschluckt; die Lippen auch. Das Einzige in Mr Kendalls Magen war Mr Kendall.
    Im letzten Moment, bevor er auf mir landete, riss ich die Hände hoch. Sie durchbrachen ihn mühelos; meine Finger verfingen sich in seinen Rippen. Hätte ich meine fünf Sinne beisammengehabt, hätte ich daran gedacht, noch ein bisschen mehr zu drücken, sein Herz zu suchen und es zusammenzuquetschen, bis es platzte. Vielleicht war es aber auch eine Frage des Zeitablaufs, nicht des Scharfsinns. Es war keine Zeit zu denken.
    In der Zeitspanne, die ich brauchte, um zu erkennen, dass dieses unmenschliche Gesicht das Letzte sein würde, was ich zu sehen bekäme, durchschlug die Kugel seinen Hinterkopf und sprengte, als sie wieder austrat, ein apfelgroßes Loch in die andere Seite, bevor sie sich, nicht ganz einen Viertelzoll von meinem Ohr entfernt, in den Teppich bohrte. Der Körper zuckte in meinen Händen. Ich spürte – oder glaubte ihn zu spüren – den Protest seines Herzens, ein wütender Stoß gegen meine Finger, die fest um seine Rippen lagen, so wie ein verzweifelter Gefangener die Gitterstäbe seiner Zelle umklammert, ehe es zu schlagen aufhörte. Das Licht in seinen Augen erlosch nicht. Es war von Anfang an kein Licht darin gewesen. Ich war noch in diesen Augen gefangen – manchmal denke ich, ich bin immer noch gefangen –, in ihrem blinden Blick.
    Warthrop wuchtete die Leiche von mir herunter – sobald er sie aus meinem wahnsinnigen Griff gelöst hatte –, warf den Revolver zur Seite und kniete sich neben mich.
    Ich streckte die Hand nach ihm aus.
    »Nein! Nein, Will Henry, nein!«
    Er sprang aus meiner Reichweite; meine blutigen Fingerspitzen streiften seine Rockschöße.
    »Fass … nichts … an – nichts!« Er hielt die Hand hoch, wie um es zu demonstrieren. »Bist du verletzt?«
    Ich schüttelte

Weitere Kostenlose Bücher