Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Titel: Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
Vom Netzwerk:
Mr Kendalls Fall, meine ich. Es wäre vielleicht einen Versuch wert.«
    »Dann versuchen Sie es.«
    »Ja.« Er räusperte sich. »Das größte Hindernis ist die Zeit, insofern als Mr Kendall nicht mehr allzu viel davon bleibt.«
    Ich rollte mich auf den Rücken, und die Gestalt des Monstrumologen schwenkte in Sicht. Er sah erschöpft aus. Er schwankte wie ein Mann, der versucht, auf dem gierenden Deck eines Schiffes das Gleichgewicht zu halten.
    »Dann sollten Sie sich besser an die Arbeit machen.«
    »Das bedeutet, dass du neben Mr Kendall wirst sitzen müssen.«
    Ich setzte mich auf, schwang die Füße über die Bettkante und zog mir hastig die Schuhe an.
    »Ich werde neben ihm sitzen.«
    * * *
    Bevor er mich ins Zimmer hineinließ, öffnete der Doktor ein kleines Arzneifläschchen mit einer dicken, klaren Flüssigkeit und schüttelte einige Tropfen der Substanz auf sein Taschentuch.
    »Hier. Binde dir das vors Gesicht!«, wies er mich an und knüpfte anschließend selbst den Knoten. Meine Sinne wurden von einem süßen, moschusartigen Duft überfallen, der mich an Franzbranntwein erinnerte, allerdings ohne die beißende Strenge.
    »Was ist das?«, fragte ich.
    »Ambra grisea oder graue Ambra, die ausgehärtete Regurgitation des Pottwals«, antwortete der Monstrumologe. »Ein gebräuchlicher Bestandteil von Parfums. Ich frage mich allerdings oft, wie häufig er verwendet würde, wenn insbesondere die Damen wüssten, wo er herkommt. Graue Ambra wird nämlich normalerweise zusammen mit Fäkalien durch den Anus des Wals ausgestoßen, aber …«
    »Fäkalien?« Mir drehte sich der Magen um.
    »Scheiße. Aber manchmal ist die Masse zu groß, um durchzupassen, und die Substanz wird durch das Maul erbrochen.«
    »Walkotze?«
    »Wenn man so sagen will, ja. Die alten Chinesen nannten es ›Drachenspucke‹. Im Mittelalter trugen die Leute Kugeln davonmit sich herum, weil sie glaubten, es könnte die Pest abwehren. Es ist aber doch recht angenehm, oder?«
    Ich stimmte ihm zu. Der Doktor lächelte zufrieden, als hätte er soeben wichtiges Wissen vermittelt.
    »Also gut. Leise jetzt, Will Henry!«
    Wir gingen ins Schlafzimmer. Ungeachtet des Geschenks von regurgitierter Walscheiße konnte ich Kendalls Verwesung riechen. Sie reizte meine Augen. Ihr Geschmack brannte mir auf der Zunge. Ich hatte es erwartet, doch das hatte wenig dazu beigetragen, mich darauf vorzubereiten. Alle anderen Erwartungen wurden zu meiner Überraschung nicht erfüllt.
    Erst einmal hatte Warthrop die Decke seiner Mutter genommen und sie dahin zurückgelegt, wo er sie gefunden hatte. Mr Kendall war vom Hals bis zu den Füßen bedeckt.
    Das war jedoch nicht alles. Mr Kendall selbst hatte sich verändert. Ich hatte mehr gequältes Sichkrümmen erwartet, das Ächzen und heisere Stöhnen von jemandem in einer extremen körperlichen und geistigen Notlage. Stattdessen war er so ruhig, so still, dass ich einen winzigen Moment lang glaubte, er wäre seinem Leiden schließlich doch erlegen. Aber nein, er lebte. Die Decke hob und senkte sich, und bei genauerer Betrachtung sah ich, dass seine Augen unter den halb geschlossenen Lidern umherwanderten. Am verwunderlichsten von allem (angesichts der verwunderlichen Umstände) war das Lächeln. Wymond Kendall lächelte! Wie in einem angenehmen Traum verloren, lächelte er.
    »Mr Kendall … ist er …?«
    »Ob er lächelt? Ja, ich würde das ein Lächeln nennen. Die Geschichten besagen, dass die Opfer im Endstadium Momente intensiver Euphorie erfahren, ein überwältigendes Glücksgefühl. Es ist ein interessantes Phänomen; vielleicht setzt Pwdre ser , sobald es erst einmal in der Blutbahn ist, eine Verbindung frei, die strukturell einem Opiat gleicht.« Er hielt inne, lachte leise – über sich selbst? – und sagte: »Ich sollte mich mit dem Schlangenserum an die Arbeit machen. Ruf mich sofort, falls sich sein Zustand ändert.«
    Und damit ließ mich der Monstrumologe allein mit Kendall. Er hätte das nicht getan, so habe ich mir viele Male im Laufe meines langen Lebens gesagt, wenn er gewusst hätte, zu was Kendall geworden war – wenn er gewusst hätte, dass Kendall nicht mehr Kendall war –, dass er nicht mehr menschlicher oder empfindungsfähiger als eine Schaufensterpuppe in einem billigen Kaufhaus war.
    Das habe ich mir gesagt.
    * * *
    Das Zimmer ist kalt. Das Licht ist grau. Das gleichmäßige Ein- und Ausatmen des einst menschlichen Dings auf dem Bett ist das Einzige, was der Junge hören

Weitere Kostenlose Bücher