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Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Titel: Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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kann – das metronomartige Ticken der menschlichen Uhr, das ihn einlullt.
    Er ist so müde. Das Kinn fällt ihm auf die Brust. Er sagt sich, er wird nicht einschlafen. Nur ein oder zwei Momente die Augen ausruhen …
    Im grauen Licht des kalten Zimmers, zum rhythmischen Atmen des werdenden Dings – Schlaf.
    Schlafe jetzt, Will Henry, schlafe.
    Siehst du sie? In dem Weiß hinter dem Grau, in der Wärme jenseits der Kälte, in der Stille auf der anderen Seite des Tickens der Uhr – sie backt einen Kuchen, einen Apfelkuchen, deinen Lieblingskuchen. Und du am Tisch mit deinem großen Glas Milch, wie du die Beine baumeln lässt, die noch nicht so lang sind, dass du mit den Füßen den Boden berühren kannst.
    Er muss zuerst abkühlen, Willy. Er muss abkühlen.
    Eine Haarsträhne, die sich aus ihrem Knoten gelöst hat, fällt an ihrem anmutigen Hals herab, und ihre neue Schürze, und ein Mehltupfer auf ihrer Wange, und wie lang ihre Arme scheinen, die in den Ofen greifen, und die ganze Welt riecht nach Äpfeln.
    Wo ist Vater?
    Wieder fort.
    Beim Doktor?
    N atürlich beim Doktor.
    Ich will gehen.
    Du weißt nicht, was du dir da wünschst.
    Wann wird er nach Hause kommen?
    Bald, hoffe ich.
    Er sagt, eines Tages werde ich mit ihm gehen.
    Ach ja?
    Eines Tages werde ich.
    Aber wenn du gehst, wer wird mir dann Gesellschaft leisten?
    Du kannst ja auch mitkommen.
    Ich habe nicht den Wunsch, deinem Vater dorthin zu folgen, wo er hingeht.
    Das Feuer, das sie verschlingt, hat keine Hitze. Ihr Schrei macht kein Geräusch. Der Junge sitzt auf seinem Stuhl mit seinen kurzen baumelnden Beinen und seinem großen Glas Milch, und er sieht zu, wie die Flammen sie verzehren, und er lacht, während seine Mutter brennt, und die Welt riecht immer noch nach Äpfeln.
    Und dann die Stimme seines Vaters, die ihn ruft:
    Will Henry! Will Henriiiii!
    * * *
    Ich schoss aus dem Sessel hoch, wankte aufs Bett zu, drehte mich um, stürzte durch die Tür auf den Flur und lief die Treppe hinunter. Es war nicht die Stimme meines Vaters – nicht die Traumstimme –, sondern die des Doktors, der nach mir rief, wie er es hundertmal zuvor getan hatte, wenn er meine unentbehrlichen Dienste dringend benötigte.
    »Komme, Sir!«, rief ich, während ich die Stufen zum Erdgeschoss hinunterpolterte. »Ich komme!«
    Wir begegneten uns in der Diele, denn während ich nach unten raste, rannte er nach oben, und wir waren beide außer Atem und blickten ein bisschen irre drein, als wir einander mit identischen Mienen komischer Verwirrung ansahen.
    »Was ist los?«, schnaufte er.
    Und ich, mit ihm: »Was ist los?«
    »Wieso fragst du mich ›Was ist los?‹ Was ist los?«
    »Was, Dr. Warthrop?«
    »Das habe ich dich gefragt, Will Henry.«
    »Mich was gefragt?«
    »Was los ist!«, brüllte er. »Was willst du?«
    »Sie … Sie haben nach mir gerufen, Sir.«
    »Ich habe nichts Derartiges getan. Bist du völlig in Ordnung?«
    »Ja, Sir. Ich muss wohl … Ich glaube, ich bin eingeschlafen.«
    »Das würde ich dir nicht raten, Will Henry. Zurück nach oben, bitte. Wir dürfen Mr Kendall nicht unbeaufsichtigt lassen!«
    * * *
    Im Zimmer war es immer noch sehr kalt. Und das Licht grau. Und da war das Raunen des Schnees an der Fensterscheibe.
    Und das Bett: leer.
    Der Sessel und der Louis-Philippe-Schrank und die erloschene Glut und der kleine Schaukelstuhl und die kleinere Puppe in diesem Stuhl und deren noch kleinere, starre Porzellanaugen und der auf der Türschwelle erstarrte Junge, der dümmlich das leere Bett anstierte.
    Langsam wich ich rückwärts auf den Flur zurück. Der Flur war wärmer als das Zimmer, und mir war viel wärmer, als der Flur war; meine Wangen standen in Flammen, auch wenn meine Hände taub waren.
    »Dr. Warthrop«, flüsterte ich, nicht lauter als der Schnee, der gegen die Scheibe wehte. »Dr. Warthrop!«
    Er muss gefallen sein , dachte ich. Hat sich irgendwie der Seile entledigt und ist aus dem Bett gefallen. Er liegt auf der anderen Seite, das ist alles. Der Doktor wird ihn hochheben müssen. Ich fasse ihn nicht an!
    Ich drehte mich um. Mein Umdrehen dauerte tausend Jahre. Tausend Meilen weit erstreckte sich die Treppe unter mir.
    Bis zum Absatz, ein weiteres Jahrtausend. Da war das Schlagen meines Herzens und mein heißer Atem, der meine behelfsmäßige Gesichtsmaske aufblähte, und der Geruch des Ambras und, über und hinter mir, der leise Protest der obersten Stufe, knarrend.
    Ich blieb stehen, lauschend. Das Verstreichen des dritten

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