Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes
und wieder zurück. Die Lampe wirft seinen Schatten auf den Boden, und der Schatten kriecht die Wand hoch, als er sich nähert, und verfolgt ihn dann, als er kehrtmacht.
Er lässt sich auf den Stuhl fallen, und ich beobachte, wie er die Hand ausstreckt und sie auf meine Stirn legt. Die Geste wirkt geistesabwesend, als könnte mich zu berühren ihm beim Denken helfen.
Oben sehe ich zu, wie er mich berührt. Unten fühle ich es.
* * *
Das Licht gräbt sich tief in meine Augen, heller als tausend Galaxien. Hinter dem Licht seine Augen, dunkler als der tiefste Abgrund.
Seine Finger um mein Handgelenk geschlungen. Der Druck des kalten Stethoskops auf meiner Brust. Mein Blut, das in gläserne Kammern strömt.
Und das Licht, das sich in meine Augen bohrt.
* * *
Was hast du mir mitgebracht, Vater?
Ich habe dir einen Samen mitgebracht.
Einen Samen?
Ja, einen goldenen Samen von der Insel der Glückseligkeit, und wenn du ihn einpflanzt und ihm Wasser gibst, dann wird er zu einem goldenen Baum heranwachsen, der Lutscher trägt.
Lutscher!
Ja! Goldene Lutscher! Und Pfefferminzdragees und Andorndrops und Zitronenbonbons. Warum lachst du? Pflanze ihn ein; du wirst schon sehen!
* * *
Ich sehe ihn in der Tür stehen. Er hat etwas in der Hand.
Seile.
Er lässt die Seile auf den Sessel fallen. Greift in die Tasche.
Revolver.
Er legt den Revolver auf den Tisch neben dem Sessel. Sehe ich seine Hand zittern?
Behutsam zieht er meinen Arm unter der Decke heraus, nimmt ein Stück Seil – es liegen drei da – und bindet einen Knoten um mein Handgelenk.
Ich schwebe über ihm. Ich kann sein Gesicht nicht sehen. Er blickt hinab auf das Gesicht des Jungen.
Er dreht sich vom Bett weg; das lose Ende des Seils fällt über den Rand. Dann dreht er sich wieder um, wischt die Seile, die auf dem Sessel liegen, auf den Boden und setzt sich hin. Für einen langen Moment rührt er sich nicht.
Und dann nimmt der Monstrumologe das andere Ende des Seils, bindet es an sein Handgelenk, lehnt sich im Sessel zurück und schließt die Augen, um zu schlafen.
* * *
Wo seid ihr diesmal hingegangen, Vater?
Ich hab’s dir doch gesagt, Willy: die Insel der Glückseligkeit.
Wo ist die Insel der Glückseligkeit?
Nun, zuerst einmal musst du ein Schiff finden. Aber nicht nur irgendein gewöhnliches Boot: Du musst das schnellste Schiff auf der Welt finden, das heißt ein Schiff mit tausend Segeln, und wenn du tausend Tage lang gesegelt bist, dann wirst du etwas sehen, das die Welt in tausend Jahren nicht gesehen hat. Du wirst schwören, dass die Sonne ins Meer gefallen ist, denn jeder Baum auf dieser Insel ist ein goldener Baum und jedes Blatt ein goldenes Blatt, und all die Blätter leuchten mit ihrem ganz eigenen Strahlen, sodass die Insel selbst in der finstersten Nacht wie ein Leuchtturmfeuer zu brennen scheint.
* * *
»Aus irgendeinem Grund habe ich an deinen Vater gedacht«, sagte der Monstrumologe zum Jungen. »Er hat mir einmal dasLeben gerettet. Ich glaube nicht, dass ich dir das schon einmal erzählt habe.«
Das Zimmer wirkte so leer; ich war an einen Ort gegangen, an den er nicht gehen konnte. Es war nicht wirklich von Bedeutung, ob ich ihn hören konnte. Seine Worte waren nicht ausschließlich für mich bestimmt.
»Arabien, im Winter 73 – vielleicht war es auch 74, ich kann mich im Moment nicht daran erinnern. Eines späten Abends wurde unser Lager aus dem Hinterhalt überfallen, und zwar von einem feindseligen und extrem gewalttätigen Raubtierrudel – damit meine ich Homo sapiens. Banditen. Wir verloren drei unserer Träger – und unseren Führer, einen sehr freundlichen Beduinen namens Hilal. Ich fühlte mich schlecht wegen Hilal. Er hielt große Stücke auf mich. Versuchte sogar, mir eine seiner Töchter zu geben – ob als Sklavin oder zur Frau, war ich mir nie ganz sicher, da ich seine Sprache nicht besonders gut beherrschte. Wie dem auch sei, in dem einen Moment unterhielt er sich mit mir, lächelnd, lachend – er war außerordentlich fröhlich. Wenige Nomaden sind bedrückt, Will Henry; wenn du darüber nachdenkst, wirst du verstehen warum. Und im nächsten Moment wurde ihm der Kopf fein säuberlich von den Schultern getrennt …
Später sagte ich seiner Witwe: ›Dein Mann ist tot, aber wenigstens starb er lachend.‹ Ich denke, darin fand sie einen gewissen Trost. Es ist die zweitbeste Art zu sterben, Will Henry.« Er sagte nicht, was die beste Art war.
»Jedenfalls zog dein Vater mich aus der
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