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Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Titel: Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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Weintrauben, dem Ding, das man nicht benennen kann. Das Ding, das ich kannte, aber nicht verstand. Das Ding, das Sie vielleicht verstehen, aber nicht kennen.
    Ich stürzte aus dem Zimmer und schaffte ein Dutzend taumelnder Schritte durch den Flur, ehe ich zusammenbrach. Alles in mir gab nach. Ich fühlte mich leer. Ich war nichts weiter als eine Kontur, eine Hülle, ein leeres Schneckenhaus, das einmal geträumt hatte, ein Junge zu sein.

Ein dunkler Schatten fiel über mich. Ich blickte nicht auf. Ich wusste, ich würde keinen Trost finden bei dem, der diesen Schatten warf.
    »Er stirbt«, sagte ich. »Wir müssen etwas tun !«
    »Ich tue alles, was in meinen Kräften steht, Will Henry«, antwortete er sanft.
    »Gar nichts tun Sie! Sie versuchen nicht, ihn zu heilen!«
    »Ich habe dir gesagt, dass es keine …«
    »Dann finden Sie eine!«, schrie ich ihn an. »Sie haben es selbst gesagt, es gibt sonst keinen! Sie sind der Einzige. Sie sind der Einzige! Wenn Sie ihm nicht helfen können, dann kann es niemand, und Sie wollen nicht! Sie wollen nicht, weil Sie wollen, dass er stirbt! Sie wollen sehen, was das Gift mit ihm anstellt!«
    »Darf ich dich daran erinnern, dass nicht ich es war, der ihn damit in Kontakt gebracht hat? Das war er selbst«, sagte er. Er hockte sich neben mich und legte mir die Hand auf die Schulter. Ich drehte mich von ihm weg.
    »Was er ist, das sind Sie im Innern«, sagte ich zu ihm.
    »Es gibt nur einen Weg, sein Leiden zu beenden«, meinte er, und der sanfte Tonfall war verschwunden; seine Stimme, wie sein Schatten über mir, war hart.
    Er zog den Revolver aus der Tasche und stieß ihn mir hin. »Hier. Möchtest du es tun? Denn ich kann es nicht. Nur, weil es keine Hoffnung für ihn gibt, Will Henry, heißt das nicht, dass ich alle Hoffnung für mich aufgeben muss.«
    »Es gibt keine Hoffnung – für keinen von Ihnen beiden.«
    Er ließ den Revolver auf den Boden fallen. Er lag zwischen uns. Sein Schatten und der Revolver lagen zwischen uns.
    »Du bist müde«, sagte er. »Geh zu Bett.«
    »Nein.«
    »Na schön. Schlaf auf dem Boden. Mir ist es gleich!«
    Er hob den Revolver auf und ließ mich allein mit meinem Elend. Ich weiß nicht, wie lange ich dort in diesem Flur lag. Es bedeutete mir nicht mehr als dem Monstrumologen, wo ich schlief. Ich erinnere mich nicht daran, die Stufen zu meinerDachkammer hochgestiegen zu sein, aber ich erinnere mich daran, mich vollständig bekleidet aufs Bett geworfen und durch das Fenster über meinem Kopf die schneebeladenen Wolken beobachtet zu haben. Die Wolken hatten die Farbe von Mr Kendalls verwesender Haut.
    Ich schloss die Augen. Dort, in der Dunkelheit in meinem eigenen Kopf, sah ich ihn, grauhäutig, schwarzäugig, hohlwangig, mit spitzen Stoßzähnen aus Knochen, die ihm die papierdünne Haut zerfetzten, ein Leichnam, dessen galoppierendes Herz sich weigerte, stehen zu bleiben.
    Mein Magen knurrte laut. Wann hatte ich zum letzten Mal gegessen? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Ich nahm den Apfel aus der Tasche, den der Monstrumologe mir gegeben hatte. Die Schale hatte die Farbe von Mr Kendalls blutigen Zähnen.
    Wenn ich jetzt Grau sehe, denke ich an verwesendes Fleisch.
    Und Rot ist nicht die Farbe von Äpfeln oder Rosen oder den Kleidern, die hübsche Mädchen im Sommer tragen.
    Das ist ganz und gar nicht die Farbe Rot.

Sechs
    »Ein interessantes Phänomen«

    Irgendwann später – allerdings war es nicht viel später – fiel seine Hand auf meine Schulter. Über mir war das Fenster und über dem Fenster die Wolken mit ihren schneeprallen Bäuchen.
    »Will Henry«, sagte der Monstrumologe. Seine Stimme war rissig und rau, als hätte er aus vollem Halse geschrien. »Will Henry.«
    »Wie viel Uhr ist es?«, fragte ich.
    »Viertel nach drei. Ich wollte dich nicht aufwecken …«
    »Aber Sie haben mich trotzdem aufgeweckt.«
    »Ich wollte dir etwas zeigen.«
    Ich wälzte mich auf die Seite, weg von ihm.
    »Ich will ihn nicht noch mal ansehen.«
    »Es geht nicht um Mr Kendall. Es geht hierum.« Ich hörte das Knittern und Rascheln von Schriftstücken in seiner Hand. »Eine Abhandlung von einem französischen Wissenschaftler namens Albert Calmette vom Institut Pasteur. Sie befasst sich mit der theoretischen Möglichkeit der Entwicklung eines Schlangenserums auf der Grundlage der Impfprinzipien Pasteurs. Die Theorie bezieht sich auf bestimmte giftige Schlangen und Arachnoiden, aber sie könnte Anwendung in unserem Fall finden –

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