Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Titel: Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
Vom Netzwerk:
zu weit gegangen, und sie wusste es. »Das war gemein«, sagte sie. »Es tut mir leid, Will. Ich … ich weiß nicht, was manchmal in mich fährt.«
    »Nein«, sagte ich und winkte mit meiner verletzten Hand ab. »Du bist am Zug, Lilly.«
    Sie zog mit dem Springer, ohne die Dame vor meinem Bauern in Sicherheit zu bringen. Einem Bauern! Ich warf einen verstohlenen Blick zu ihr hoch. Tupfen von Sonnenlicht schimmerten in ihrem dunklen Haar, von dem sich eine Strähne unter ihrem Hut gelöst hatte und wie ein launenhafter schwarzer Wimpel in der sanften Frühlingsbrise flatterte.
    »Was denkst du, wieso du nichts von ihm gehört hast, Will?«, fragte sie. Die Klangfarbe ihrer Stimme hatte sich verändert, war jetzt so weich wie der Wind.
    »Ich glaube, dass etwas Furchtbares passiert ist«, gestand ich.
    Wir blickten einander einen langen Moment in die Augen, und dann war ich von der Bank hoch und trabte durch den Park, und die Welt war wässrig grau geworden, ihres frühlingshaften Pulsschlags beraubt. Bevor ich den Ausgang in der Fifth Avenue erreicht hatte, holte sie mich ein und zog mich herum, sodass mein Gesicht ihr zugewandt war.
    »Dann musst du etwas unternehmen!«, sagte sie wütend. »Nicht darüber nachdenken, wie verängstigt du bist oder wie einsam du bist oder was auch immer es ist, worüber du nachdenkst! Glaubst du denn wirklich , dass etwas Furchtbares passiert ist? Denn wenn ich glauben würde, dass jemandem, den ich liebe, etwas Furchtbares passiert ist, würde ich nicht mit einer Leichenbittermiene herumlaufen und darüber nachdenken : Ich wäre auf dem nächsten Schiff nach Europa! Und wenn ich kein Geld für eine Fahrkarte hätte, würde ich mich als blinder Passagier an Bord schleichen, und wenn ich mich nicht als blinder Passagier an Bord schleichen könnte, würde ich hin schwimmen !«
    »Ich liebe ihn nicht. Ich hasse ihn. Ich hasse Pellinore Warthrop mehr, als ich irgendetwas anderes hasse. Mehr als ich dich hasse. Du weißt es nicht, Lilly. Du weißt nicht, wie es gewesen ist,dort in diesem Haus zu leben, und was in diesem Haus geschieht und was geschieht, weil ich in diesem Haus lebe …«
    »Wie das hier?« Sie nahm meine linke Hand in ihre.
    »Ja, wie das. Und das ist nicht alles, nicht das Ganze.«
    »Er schlägt dich?«
    »Was? Nein, er schlägt mich nicht. Er … Er sieht mich nicht. Es vergehen Tage, manchmal Wochen … Und dann kann ich ihm nicht entkommen; ich kann nicht weg. Als ob er einen Strick genommen und uns damit zusammengebunden hätte. Und es sind er und ich und dieser Strick, und da gibt es kein Losbinden. Das ist das, was du nicht verstehst, was deine Mutter nicht versteht, was niemand versteht. Er ist Tausende von Meilen weit weg – vielleicht sogar tot –, und es spielt keine Rolle. Er ist genau hier, genau hier .« Ich schlug mir mit der flachen Hand hart an die Stirn. »Und es gibt kein Entkommen. Es ist zu eng, zu eng .«
    Meine Knie gaben unter mir nach. Sie schlang die Arme um mich und hielt mich fest. Sie hielt mich davon ab zu fallen.
    »Dann versuch es nicht, Will«, flüsterte sie in mein Ohr. »Versuch nicht, zu entkommen.«
    »Du verstehst es nicht, Lilly.«
    »Nein«, sagte sie. »Ich verstehe es nicht. Aber ich bin auch nicht diejenige, die es verstehen muss.«

Sechzehn
    »Sei still und hör zu!«

    Ich hatte ihn bei einem meiner jüngsten Ausflüge in die Respekt einflößende Bibliothek der Monstrumologischen Gesellschaft entdeckt: ein dünner Band, mit einem feinen Staubfilm überzogen, manche Seiten noch ungeschnitten, der Buchrücken knitterfrei. Offenbar hatte sich seit seiner Veröffentlichung im Jahr 1871 niemand die Mühe gemacht, ihn zu lesen. Was meinen Blick ausgerechnet auf dieses Büchlein lenkte, das inmitten von sechzehntausend anderen stand, weiß ich nicht. Aber ich entsinne mich deutlich des kleinen Rucks der Erkenntnis, als ich die Titelseite aufschlug und den Namen des Verfassers sah. Es war wie in einer überfüllten Stadt um die Ecke zu biegen und in einen lange verschollenen Freund hineinzulaufen, den noch einmal zu sehen man alle Hoffnung aufgegeben hatte.
    Es war spät an diesem Tag, als ich es fand – keine Zeit mehr, es zu lesen, bevor die Bibliothek schloss –, und Nichtmitgliedern gegenüber befleißigte man sich einer strikten Nichtausleihpolitik. Also klaute ich es. Steckte es hinten unter meine Jacke und spazierte hinaus, direkt an Mr Vestergaard, dem Leiter der Bibliothek, vorbei, den die meisten

Weitere Kostenlose Bücher