Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes
* *
Als ich an diesem Abend meine Sachen packte, trat Lilly mit ihrer Bitte an mich heran. Ach, na schön, ich will es zugeben: Es war keine Bitte.
»Ich gehe mit euch.«
Ich wählte nicht die Antwort, die von Helrung mir gegebenhatte. Ich war müde und besorgt, meine Nerven zum Zerreißen gespannt, und das Letzte, was ich wollte, war ein Streit.
»Deine Mutter wird dich nicht lassen.«
»Mutter sagt, sie wird dich nicht lassen.«
»Der Unterschied ist, dass sie nicht meine Mutter ist.«
»Sie war nämlich schon bei Onkel. Ich habe sie noch nie so wütend gesehen. Ich dachte, ihr Kopf würde platzen – buchstäblich platzen und von ihren Schultern rollen. Ich kann’s kaum erwarten zu sehen, was passiert.«
»Ich glaube nicht, dass ihr Kopf platzen wird.«
»Nein, ich meine mit dir. Ich habe noch nie erlebt, dass sie nicht ihren Willen bekommen hat.«
Sie ließ sich aufs Bett plumpsen und sah mir dabei zu, wie ich Kleider in meine kleine Tasche zwängte. Ihr unverhohlener Blick verunsicherte mich. Das tat er immer.
»Wie hast du ihn gefunden?«, fragte sie.
»Ein anderer Monstrumologe hat ihn gefunden.«
»Wie?«
»Ich … ich weiß es nicht genau.«
Sie lachte – Frühlingsregen auf die trockene Erde. »Ich weiß nicht, wieso du lügst, William James Henry. Du bist ausgesprochen schlecht darin.«
»Der Doktor sagt, Lügen ist die schlimmste Art des Possenreißens.«
»Dann bist du die schlimmste Art von Possenreißer.«
Ich lachte. Es ließ mich stutzen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich zum letzten Mal gelacht hatte. Es fühlte sich gut an zu lachen. Und gut, ihre Augen zu sehen und den Jasmin in ihren Haaren zu riechen. Ich hatte plötzlich das Verlangen, sie zu küssen. Ich hatte diesen speziellen Drang noch nie zuvor erlebt, und das Gefühl war nicht unähnlich dem, am Rande eines Abgrunds einer völlig anderen Art zu stehen. Das hier war kein Knoten, der sich in meiner Brust loswickelte; das hier war die Luft selbst, die ganze Atmosphäre, die sich mit unvorstellbarer Geschwindigkeit ausdehnte. Ich wusste nicht recht, wasich wegen alldem machen sollte – außer vielleicht sie zu küssen, aber Lilly Bates tatsächlich zu küssen beinhaltete … na ja, sie zu küssen .
»Wirst du mich vermissen?«, fragte sie.
»Ich werde es versuchen.«
Sie fand meine Antwort außerordentlich witzig; sie rollte sich auf den Rücken und brüllte vor Lachen. Ich wurde rot und wusste nicht, ob ich mich beleidigt oder geschmeichelt fühlen sollte.
»Oh!«, rief sie und setzte sich auf und griff in ihre Handtasche. »Das hätte ich ja fast vergessen! Hier, ich habe etwas für dich.«
Es war eine Fotografie von ihr. Ihr Lächeln war ein bisschen unnatürlich, fand ich, aber mir gefiel ihr Haar. Es war in Korkenzieherlocken gelegt, was das Lächeln mehr als wettmachte.
»Na, was meinst du? Es ist ein Talisman, und damit du dich nicht so einsam fühlst. Du hast es mir zwar nie gesagt, aber ich glaube, du bist ganz schön oft einsam.«
Ich hätte vielleicht widersprochen; Zanken war unsere normale Form der Unterhaltung. Aber ich war im Begriff wegzugehen, und sie hatte mir gerade ihre Fotografie gegeben, und vor einem Moment hatte ich noch daran gedacht, sie zu küssen, deshalb dankte ich ihr für ihr Geschenk und machte mit dem Packen weiter – das heißt, ich räumte in der Tasche um, was schon eingepackt war. Manchmal, wenn Lilly um mich herum war, kam ich mir vor wie ein Schauspieler, der nicht wusste, was er mit seinen Händen anstellen sollte.
»Schreib mir!«, sagte sie.
»Was denn?«
»Einen Brief, eine Postkarte, ein Telegramm … Schreib mir, während du weg bist.«
»In Ordnung«, sagte ich.
»Lügner!«
»Ich verspreche es, Lilly. Ich werde dir schreiben.«
»Schreib mir ein Gedicht!«
»Ein Gedicht?«
»Na ja, es muss nicht unbedingt ein Gedicht sein, nehm ich an.«
»Das ist gut.«
»Wieso ist das gut? Du willst kein Gedicht schreiben?« Sie zog einen Schmollmund.
»Ich habe bloß noch nie eins geschrieben. Der Doktor schon. Der Doktor war Dichter, bevor er Monstrumologe wurde. Ich wette, das hast du nicht gewusst!«
»Ich wette, du hast nicht gewusst, dass ich das wusste. Ich habe sogar ein paar seiner Gedichte gelesen!«
»Jetzt lügst du aber! Der Doktor sagt, er hat sie alle verbrannt.«
Bei einer Lüge ertappt zu werden, brachte Lillian Bates nicht aus der Fassung. Sie machte einfach ohne eine Spur von Reue weiter.
»Weshalb hat er das gemacht?«
»Er
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