Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes
nicht zulassen, dass dir ein Leid geschieht.«
Ich setzte mich neben sie. Mein Hut in meinen Händen, der Umschlag in ihrem Schoß, und der abwesende Mann zwischen uns.
»Mein Platz ist beim Doktor.«
»Dein Platz! William, dein Platz ist da, wo der liebe Herr es bestimmt! Hast du daran einmal gedacht? Im Leben gibt es die albernen Geschenke, die wir einander geben, und es gibt die wahren Geschenke, die Geschenke jenseits allen weltlichen Wertes. Es ist kein zufälliger Umstand, dass du zu mir gekommen bist. Es ist Gottes Wille. Das glaube ich. Das glaube ich mit ganzem Herzen.«
»Wenn es Gottes Wille ist«, sagte ich, »würde er dann nicht dafür sorgen, dass ich nicht weggehen kann ?«
»Du vergisst sein größtes Geschenk, William. Dieses Geschenk sperrt nicht ein; es befreit. Ich könnte mich weigern, dich gehen zu lassen. Ich könnte einen Anwalt engagieren, die Sache der Polizei melden. Ich könnte dich wie einen Truthahn zusammenschnüren und in diesem Zimmer einschließen, aber das werde ich nicht. Ich werde dich nicht zwingen zu bleiben. Ich bitte dich zu bleiben. Wenn du möchtest, William, werde ich auf die Knie fallen und dich anflehen.«
Mrs Bates fing an zu weinen. Sie weinte, wie sie alles andere tat, mit großer Würde; es lag eine Vornehmheit in ihren Tränen, eine Größe, die das Weltliche transzendierte – opernhaft möchte ich sie nennen, und das meine ich im besten Sinne des Wortes.
Ich blickte auf den Hut hinab. Ein albernes Geschenk, so hatte sie ihn genannt. Vielleicht war er albern im Vergleich zudem höchsten Geschenk. Welches Geschenk wäre das nicht? Und vielleicht war auch ich albern, dass ich irgendeine Bindung dazu empfand oder zu dem Mann, der ihn mir geschenkt hatte. Daraus kann wenig Gutes erwachsen, Will Henry. Ich sah auf die Stelle, wo mein Finger hätte sein sollen. Das war nichts, der geringste Verlust. In der warmen Küche backt eine Frau ihrem kleinen Jungen einen Apfelkuchen. Ein Mann liegt auf dem Boden, breitet die Arme aus und verwandelt sich in ein Schiff mit tausend Segeln.
Und in der Arena sind zwei identische Türen …
Sie streckte die Hand aus und legte sie mir auf die Wange. Sie wusste es. Sie hatte nie irgendeinen Zweifel gehabt, da, wo Zweifel von Bedeutung sind, welche Tür ich wählen würde.
Zwanzig
»Ich ziehe es vor, dem Licht zu dienen«
Jacob Torrance füllte den Großteil seiner Zeit während der sechstägigen Überfahrt mit drei Dingen aus: Pokulieren, Poussieren und Pokern – in dieser Reihenfolge und unter Einstreuung eines Streits mit Dr. von Helrung hier und da zur Unterbrechung der Monotonie. Ich nehme an, er schlief auch ein wenig, aber er teilte nicht die Kabine mit mir. Ich war bei dem alten österreichischen Monstrumologen einquartiert, der, wie ich schnell herausfand, das meiste seiner Würde verlor, wenn er sein Nachthemd anzog (er war ziemlich o-beinig und ein bisschen speckbäuchig), aber das trifft ja auf beinahe jeden zu.
Ein oder zwei ihrer Eröffnungsscharmützel verpasste ich. Kaum war Lady Liberty unter den Horizont geschlüpft, da zog ich mir einen scheußlichen Fall von Seekrankheit zu, die Geißel der Landratten, die mich zwang, intimere Bekanntschaft mit einer Toilette zu schließen als irgendein Mensch sollte. Von Helrung steckte mich ins Bett, gab mir ein paar Salzcracker und behauptete allen Ernstes, das beste Heilmittel bei Seekrankheit sei Tanzen.
»Nein, es sind Oliven«, widersprach Torrance. »Oder Ingwerwurzeln. Sie sollten auf einer Wurzel herumkauen, Mr Henry.«
»Auf jeder Schiffsreise hat meine Frau genauso gelitten wie Will«, versetzte von Helrung. »Dann gingen wir immer tanzen, und alles war wieder gut.«
»Dann möchten Sie Will also zum Tanz mitnehmen?«
»Es ist sinnvoller für ihn zu tanzen als auf einer Wurzel herumzukauen!«
»Vielleicht sollte er ja beides machen – auf einer Wurzel herumkauen, während er tanzt!«
»Ich würde lieber weder tanzen noch essen«, krächzte ich. »Jemals wieder.«
Am zweiten Tag fühlte ich mich ein bisschen besser – gut genug immerhin, um meine Seebeine zu erproben – und verließ die Kabine, um das Linienschiff zu erkunden. Nach einer Stunde Wanderns durch die labyrinthischen Korridore und über Meilen von Decks entdeckte ich von Helrung und Torrance auf dem oberen Promenadendeck, wo sie in Schaukelstühlen saßen, das allgegenwärtige Glas Scotch neben Torrances Ellbogen. Er hatte die lästige Angewohnheit, nach jedem Schluck seinen
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