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Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Titel: Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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und hoben die nackten Knie dabei hoch in die Luft, und ihr helles Lachen klang wie die Pfeife des kleinen lahmen Luftballonmanns, weit weg und winzig.
    »›Geh, denn sie rufen, Schäfer, dich vom Hügel aus‹«, zitierte er leise. »›Komm, Schäfer, und fang aufs Neu die Suche an!‹«
    Er drehte sich vom Fenster weg und sagte: »Ich war zehn, und mein Vater nahm meine kleine Schwester und mich von unserem kleinen Dorf Lech nach Stubenbach mit, wo eine Zigeunerschar mit ihrer Wandervorstellung angekommen war. Es waren nur wir drei; Mutter weigerte sich zu gehen und schärfte Papa ein, mit Adleraugen auf uns aufzupassen, denn es war ein weitverbreiteter Glaube, dass Zigeuner Kinder stehlen. ›Teufelsanbeter‹, so nannte sie sie. Aber mein Papa hatte, auch wenn er nur ein armer Bauer war, das Herz eines Abenteurers, und so zogen wir los. Da waren Tänzerinnen und Akrobaten und Wahrsagerinnen – und erst das Essen! Mein Gott , solch ein Essen hatte man noch nie gekostet! Am Nachmittag traten zwei Männer an uns heran, der eine sehr alt und der andere viel jünger – seinSohn vielleicht –, die uns anboten, gegen einen kleinen Obolus einen Blick in ihr Zelt werfen zu dürfen. ›Wieso?‹, fragte Papa. ›Was ist in euerm Zelt?‹ Und der ältere antwortete: ›Kommt und seht.‹ Also entrichtete Papa den Obolus, und ich ging hinein. Nicht Papa oder meine Schwester. Der jüngere Zigeuner sagte zu ihm: ›Nimm sie nicht mit. Sie sollte draußen bleiben.‹ Und Papa wollte sie nicht allein lassen und riskieren, dass sie gestohlen wurde – oder den Zorn meiner Mutter riskieren, weil er es zugelassen hatte. Ich ging allein hinein. Da stand eine große Holzkiste – sie erinnerte mich stark an einen Sarg –, und im Innern der Kiste befand sich eine Abscheulichkeit. Es lähmte mich vor Furcht – ließ mich zur Salzsäule erstarren. Ich wollte wegsehen, aber ich konnte nicht wegsehen. ›Was ist das?‹, fragte ich den Alten. ›Es ist ein Monster‹, sagte er. ›Getötet von den Angehörigen meines Volkes in Ägypten. Man nennt es Greif. Das hier ist nur ein Baby. Sie werden sehr groß, so groß, dass sie die Sonne verdunkeln. Ist er nicht fabelhaft?‹
    Er hatte den Körper eines Löwen, den Kopf eines Adlers und einen Python als Schwanz. Eine Fälschung, und keine besonders gute Fälschung. Sie hatten die Teile mit dickem schwarzem Garn zusammengenäht, doch zu diesem Schluss kam ich erst viele Jahre später. Ich war ein Kind. Ich sah die Bestie mit Kinderaugen, Augen, die nicht wegschauen konnten. Was ist das für ein Wesen, und wie konnte es sein ? Wie konnte so ein Wesen existieren? Ich erinnere mich an das Gefühl der Enge in meiner Brust, als ob eine große Hand mir das Leben aus dem Herzen quetschen würde. Ich wollte weglaufen; ich wollte bleiben. Ich wollte mich abwenden; ich wollte es genauer betrachten … Es hielt mich fest, und auf irgendeine eigenartige Weise, die zu verstehen ich nicht vorgeben will, hielt ich es fest. Ich halte es noch immer fest. Und es hält mich noch immer fest.«
    Er drehte sich wieder zum Fenster um. Die Sonne ging über den Gebäuden an der Ostseite der Straße auf und überflutete die Chaussee mit goldenem Licht.
    »Jener Tag war der Beginn.«
    »Ich war fünfzehn, und mein erstes Monster hatte denselben Namen wie ich«, sagte Jacob Torrance. »Nach einer Nacht mit seiner Geliebten und einer Flasche Fusel kam er nach Hause und fing an, mit dem funktionalen Ende eines Tischlerklüpfels auf meine Mutter einzuprügeln. Also nahm ich das Erste, was mir gerade in die Hand kam – war zufällig seine Springfield-Flinte – und pustete ihm ein Loch von der Größe einer Steckrübe durch den Hinterkopf. Von diesem Tag an hab ich Monster getötet.«
    Von Helrung legte verärgert die Stirn in Falten. »Thomas Arkwright war kein Monster, bis Sie eins aus ihm gemacht haben!«
    »Thomas Arkwright war ein Agent für den britischen Geheimdienst.«
    »Woher wollen Sie das wissen? Hat Arkwright es Ihnen erzählt? Nein! Es ist eine Vermutung . Es ist geraten!«
    »Außer Kearns gibt es mindestens noch zwei Gruppen von Spielern an diesem Pokertisch, Meister Abram. Drei, wenn wir uns mitzählen. Da ist die Gruppe, von der Arkwright befürchtete, sie würde ihn töten, wenn er seine Karten aufdeckt, und die Gruppe, die uns hängen würde, wenn wir ihm auch nur ein Härchen auf seiner schütter werdenden Kopfhaut krümmen. Ich weiß nicht, wer diese erste Gruppe sein könnte, aber ich

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