Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
die Koppeln. Mehrere Pferde grasen auf dem feuchten, halbgefrorenen Boden. Hier und dort liegen Schneeflecken, für den November ist es noch immer mild, die Luft ist angenehm klar. Er sieht die Reithalle und die Stallungen, niedrige, rotangestrichene Gebäude, er sieht geparkte Autos und Anhänger. Es ist wirklich sehr idyllisch hier, das Reitzentrum liegt in einer Senke in der Landschaft wie ein Klötzchen in einer Schale, umkränzt von sanften Hängen und Wäldern. Er lenkt in eine freie Parklücke. Muß zuerst ein wenig im Auto sitzen bleiben. Es ist noch immer früher Vormittag, nur zwei junge Mädchen führen ihre Pferde vorbei, um über die Wiesen zu reiten. Zusammen werden sie durch den Schnee jagen und dabei vor Begeisterung juchzen. Wieder denkt er an Julie, er denkt an sie voller Sehnsucht und Hoffnung, träumt von allem, was vielleicht passieren wird. Die Mädchen würdigen ihn keines Blickes. Trotzdem bleibt er im Auto sitzen. Er sieht die Pferdehintern und die schwingenden Schweife, dann sind sie nicht mehr zu sehen. Zögernd steigt er aus, bleibt eine Weile stehen und schaut sich um, ist jetzt in seiner blauen Daunenjacke für alle Welt sichtbar. Aber niemand kommt auf ihn zu, um ihm Fragen zu stellen. Er geht zu dem ersten Stall hinüber. Öffnet die schwere Tür, bleibt stehen und horcht ins Gebäude hinein. Atmet tief den herben Geruch der Tiere ein. Er hört das leise Geräusch von kauenden Pferden, ein Kauen, das sich immer wiederholt, er nimmt den würzigen Geruch von trockenem Heu, von Leder und Pferdeäpfeln wahr. Rechts von ihm hängt ein Schwarzes Brett, er liest und lächelt.
»Räumt gefälligst auf, ehe ihr geht! Und zwar immer vor der eigenen Box. Laßt die Sattelsachen nicht auf dem Gang liegen. Und die Tür muß zu bleiben, sonst friert das Wasser!« Das alles ist ihm so vertraut, so lieb. Fast andächtig läuft er durch den Stall. In diesem Gebäude hier ist er beschützt. Es ist ein ganz besonderer Raum, in dem ihn niemand sonst erreichen kann. Er ist erfüllt von Gefühlen, Gerüchen und Ruhe, sie strömen mit sofortiger Wirkung durch seinen Körper. Die großen Tiere achten nicht auf ihn, sie kauen ungestört weiter, schnappen sich immer wieder Heu, konzentrieren sich ganz und gar auf ihr Essen. Einige Spatzen kreisen unterm Dach, ab und zu landen sie im Mittelgang, finden hier und da ein Korn, das sie mit unerschütterlichem Eifer aufpicken. Es gibt insgesamt zehn Pferde, er mustert jedes sorgfältig. Die zwei Ponies interessieren ihn nur mäßig, ein Pony ist und bleibt ein Pony und kann niemals zum Pferd werden. Er sieht ein ziemlich übergewichtiges Fjordpferd und einen Schimmel, der ihm nicht so gut gefällt, etwas stimmt mit dem Körperbau nicht, und außerdem ist er mager. Aber die übrigen sechs betrachtet er mit großem Interesse. Läuft im Stall hin und her. Liest die Schilder auf den Boxentüren. Konstantin, geboren 92, Besitzerin Grete Valen. Superman, geboren 96, Besitzerin Line Grov. Ein Pferd zeichnet sich durch die beeindruckende Höhe seines Widerrists aus. Und durch seine Farbe. Es ist ein Fuchs. Charlo hält an, bleibt stehen und starrt ihn an. Der Fuchs gefällt ihm am besten. Der Fuchs ist der, von dem er träumt, ein tiefer, im Licht des Fensters glänzender Kupferton. Eine schöne pfeilförmige Blesse auf der Stirn. Dicker, fülliger Schweif und kräftiger Nacken. Die Augen sind schwarz und leuchten, sie mustern ihn mit stoischer Ruhe. Charlo streckt eine Hand aus und läßt das Pferd schnuppern, die Schnauze fühlt sich an wie dichter, feiner Samt. Er beugt sich vor und bläst ihm in die Nüstern, will ihm seinen eigenen Geruch hinterlassen. Das Pferd ist neugierig, die Ohren zeigen interessiert nach vorn, der Schweif schlägt hin und her. Es ist wirklich ein großes Tier. Sechshundert Kilo, schätzt er, mit kräftigen Beinen und sprungkräftigem Hinterteil. Ganz bestimmt ein Dressurpferd. Es hat die Muskelmasse, die Pferde eben haben, wenn sie viel Beinarbeit leisten. Es sieht frisch beschlagen und gepflegt aus, seine Hufe sind blank und geölt. Charlo lungert vor der Box herum und verliert sich in Träumereien. An der Tür hängt kein Schild. Aber natürlich muß das Pferd irgend jemandem gehören. Er wird aus seinen Gedanken gerissen, als er die Tür hört, jemand kommt. Er fährt zusammen. Bereitet sich auf ein Gespräch vor. Er starrt durch den Gang und entdeckt ein junges Mädchen. Sie wirft ihm einen verlegenen Blick zu, registriert, daß er ein
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