Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
hinter dem Lenkrad sitzt ein Mann, hat der es auf mich abgesehen? Er kann sich nicht beruhigen. In dem klaren Winterlicht fühlt er sich ausgeliefert, er findet, daß sein Auto mehr Krach macht als sonst. Er stellt sich alle möglichen Seltsamkeiten vor, und seine Wangen scheinen zu brennen. Es ist trotzdem eine Erleichterung, unter Menschen zu sein, ein selbstverständlicher Teil des Verkehrs. Hier im Gewimmel, zwischen guten und bösen Gefühlen, fühlt er sich anonym. Nach und nach kommen die Höfe und die Obstplantagen. Er mag diese ostnorwegische Landschaft, die Äcker und die Tannenwälder, die sanften Hänge und Hügel. Er mag die stark beschnittenen Apfelbäume, dekorativ wie japanische Schriftzeichen vor dem weißen Schnee. Im Mai werden sie in Weiß und Rosa dastehen wie mollige Brautjungfern. Er wirft einen Blick auf die Uhr, schaltet das Radio ein und lauscht. Vielleicht ist Harriet jetzt gefunden worden, irgendwer ist ins Haus gegangen, und ein Schrei hat die Stille in der Küche zerrissen. Immer wieder schaut er aus dem Augenwinkel in den Spiegel. Er sieht die schwarzen Pupillen und findet, daß die jetzt zu Strichen geworden sind, wie bei einer Ziege. Nein, das bildet er sich ein, seine Phantasie spielt ihm einen Streich, er steht doch unter Streß. Kein Wunder, daß er im Schnee japanische Schriftzeichen sieht, kein Wunder, daß er in Gedanken seine eigene Stimme hört.
Weißt du überhaupt, was du getan hast?
Er umklammert die kleine Kugel auf dem Schalthebel, sitzt vornübergebeugt da und fährt. Jetzt kommt die vertraute Fanfare, die verkündet, daß Nachrichten verlesen werden, deshalb fährt er an den Straßenrand und hält an. Tschetschenische Rebellen sind an der Grenze zu Rußland festgenommen worden, in Israel hat ein Selbstmordattentäter zugeschlagen, der neue Grippeimpfstoff ist da. Kein Wort über den Mord an Harriet Krohn. Er schlägt mit der Hand auf das Lenkrad und fährt wieder auf die Straße, seine Enttäuschung grenzt schon fast an Verzweiflung. Er will es hinter sich bringen, den Lärm, die Verurteilung. Theoretisch kann sie tagelang liegenbleiben. Sie werden nichts finden, denkt er, ich habe keine Spuren hinterlassen. Ich war schnell und ziemlich zielstrebig, auch wenn ich verzweifelt war. Er denkt an die vielen Menschen, die durch ihr Haus laufen werden, erfahrene, tüchtige Personen mit grenzenloser Sachkenntnis. Welche Partikel kann er ins Haus geschleppt haben? Kann er ein Haar verloren haben, werden sie im Blut seinen Fußabdruck und das Muster seiner Sohlen finden? Er versucht, ruhig zu atmen. Weil er Hunger hat, hält er nun Ausschau nach einem Kiosk oder einer Tankstelle, wo er etwas zum Essen kaufen kann. Nach fünf Minuten hält er an einer Shelltankstelle. Sitzt eine Weile im Auto, wagt sich fast nicht hinein. Er fährt sich mit den Fingern durch die Haare, schaut vorsichtig durch die Windschutzscheibe, sieht keinen Menschen. Aber am Ende des Gebäudes entdeckt er einen großen grauen Container. Für Abfall. Er bückt sich und hebt die Tüte mit den blutigen Kleidungsstücken hoch. Dann beißt er die Zähne zusammen und verläßt das Auto, geht so ruhig er kann zum Container, der hat einen Deckel, dafür ist er dankbar. Er schaut über seine Schulter, wühlt ein wenig herum, bedeckt die Tüte, knallt den Deckel wieder zu. Dann geht er in den Laden. Gelassen schlendert er zum Tresen und entdeckt ein paar riesige Würste, die sich auf einem elektrischen Grill bräunen. Er entscheidet sich für eine in Speck gewickelte und bedeckt sie mit einer dicken Senfschicht. Der junge Verkäufer sieht zu, wie er die Wurst verzehrt. Er geht weiter, bleibt vor dem Zeitschriftenregal stehen, vertieft sich in die Schlagzeilen. Die knusprige Pelle platzt zwischen seinen Zähnen, die Gewürze brennen auf seiner Zunge. Er leert eine Colaflasche zur Hälfte, nickt dem Verkäufer zu und geht wieder hinaus. Das Essen tut ihm gut. Langsam kommt er zur Ruhe. Er fährt weiter, behält die Straßenschilder und den Verkehr im Rückspiegel im Auge. Hinter ihm fährt ein Scorpio, er ist grün. Es kann sich durchaus um Polizei in Zivil handeln. Er glaubt es nicht, er denkt nur an diese Möglichkeit, daß sie überall sind, daß sie ihn suchen, daß sie nicht aufgeben werden. Dreißig Minuten später biegt er bei Møllers Reitzentrum nach links ab. Er folgt einem schmalen holprigen Waldweg, schaltet in den zweiten Gang, versucht, vorsichtig zu fahren, um den Honda zu schonen. Kurz darauf sieht er
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