Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
Auto, ein graues Auto. Er hat das Gefühl, daß der Honda leuchtet, ein feuerrotes entlarvendes Leuchten.
ES IST DOCH vollkommen unmöglich, daß sie überlebt hat?
Daß sie auf den Ellbogen gekrochen ist, bis ins Wohnzimmer, und daß sie dort den Notruf gewählt hat? Daß sie ihn bereits angezeigt und bis ins kleinste Detail beschrieben hat? Nein, sagt seine innere Stimme, er kratzt alle Vernunft zusammen. Das kann nicht sein.
Langsam fährt er durch die Blomsgate. In Gedanken führt er ein Gespräch mit Lind, so, wie es wohl verlaufen wird, wenn er den anderen endlich erreicht.
Ja, hallo, hier ist Charlo. Lange nichts mehr voneinander gehört!
Schweigen am anderen Ende. Gereiztes Grunzen, vermutlich ein wachsender Verdacht.
Ja, Scheiße, wieso rufst du überhaupt an? Hier gibt es nichts mehr zu holen, hast du denn überhaupt keinen Anstand mehr im Leib?
Die vertraute, mürrische Stimme. Abweisend, kalt.
Immer mit der Ruhe, Bjørnar, das kann sich lohnen.
Neues Schweigen, Lind wartet, Charlo zögert, er genießt diesen Augenblick, er hält die Geldscheine in der Hand, vielleicht, und schlägt leicht damit auf die Tischplatte.
Jetzt red schon. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.
Zweihunderttausend in glatten, schönen Scheinen liegen hier für dich bereit. Kannst sie jederzeit abholen. Kannst auch eine Heckenschere mitbringen, wenn du mir nicht glaubst.
Lind schweigt. Die Stille füllt sich mit Unglauben.
Und wie hast du das geschafft?
Charlo denkt sorgfältig nach.
Phantasie, Ausdauer und Mut.
Er kommt wieder zu sich und hütet sich vor dem Verkehr von rechts. Im Badezimmer fast ohnmächtig zu werden ist ihm noch nie passiert. Plötzlich ein Flimmern vor Augen, ein Gefühl zu verschwinden. Schuld. Nein, nicht an Schuld denken, an schöne Dinge denken. An Julie, die jung und gesund ist. Daß Inga Lill an Krebs gestorben ist, das hätte er niemals gedacht, sie war immer so lebhaft, so lebendig. Es ist noch immer unfaßbar für ihn. An dem Tag, an dem sie die Diagnose bekam, waren beide wie vom Blitz getroffen. Es ist ein wenig zu warm im Wagen, er schaltet das Gebläse aus, starrt auf die verschneite Straße. Nicht den Gedanken freien Lauf lassen, Kontrolle über sie behalten, gesammelt sein, denkt er. Das ist schwer. Denn Harriet Krohn ist tot. Er kratzt sich mit den Nägeln am Kinn, versucht, an die Zukunft zu denken. Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche, daß sie tot ist, sie kann ihn nicht anzeigen. Dort liegt die Brauerei. Beeindruckende Stapel aus roten und gelben Bierkästen stehen wie hohe Türme auf dem Platz vor dem Gebäude, sie sehen aus wie überdimensionale Legosteine. Wenn er doch noch einmal ein Kind sein und mit reinem Gewissen spielen könnte, beschützt von den Erwachsenen. Er verliert sich in den Gedanken an seine Kindheit und erinnert sich an einen Tag, als er aus der Schule nach Hause ging. Es war Winter und klirrendkalt, der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln. Und dann sah er etwas in einer Schneewehe, fast direkt vor seiner Haustür. Eine überfahrene Katze. Sie war fast umgestülpt, ihre Gedärme quollen aus ihr hervor in den Schnee. Er war erregt und neugierig. Er wußte, daß seine Mutter ihn vom Fenster aus sehen konnte, aber er konnte sich nicht beherrschen. Er fing an, mit einem Stöckchen in den Innereien herumzustochern. Die Katze rührte sich nicht, er konnte nach Herzenslust stochern, das Tier hatte Frieden gefunden. Er war erst sieben, aber das begriff er schon, das Stöckchen wühlte hektisch in den Innereien, er konnte nicht genug davon bekommen. Nach einigen Minuten kam seine Mutter aus dem Haus, sie wollte wissen, was er denn hier trieb. Ihrer Reaktion konnte er entnehmen, daß er etwas Unverzeihliches getan hatte. Aber er fand die Katze nicht widerlich. Er war in Wirklichkeit zutiefst fasziniert. Daran denkt er jetzt, fragt sich, ob er vielleicht anders ist, ob ein anderes und ganz normales Kind angeekelt davongelaufen wäre. Wie war er auf die Idee gekommen, in dem toten Tier herumzustochern? Er hat das Gefühl, daß alles eine Bedeutung hat, er analysiert alte Begebenheiten und sucht nach einem Defekt. Wenn er denn einen Defekt hat. Nein, ihm fällt nichts ein, er fühlt sich ganz normal. Hier kommt Charlo. Ich bin ganz normal, aber ich habe getötet. Er fährt über die Schnellstraße, die Abstände zwischen den Häusern werden immer größer. Der Wagen da hinter mir, denkt er, und schaut in den Rückspiegel, der ist schon lange da, ein Renault,
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