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Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)

Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)

Titel: Der Mord an Harriet Krohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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das Licht wie Säure brennen wird. Es geht bald vorbei, es kommt und geht, das weiß ich, ich muß damit leben. Er versucht, in Gedanken eine Reise zu machen, an einen anderen Ort zu gelangen, aber das erfordert große Anstrengungen. Meine Mutter hat mich im Jahre 1963 in die Welt gesetzt, denkt er und hält sich an diesen Bildern fest. Ich war ein molliges Baby, ein braves Kind, ein rücksichtsvoller Junge und später ein netter junger Mann, ein richtig toller Typ, wie es hieß. Ehe ich mit dem Spielen anfing, ehe ich mir Geld von allen lieh und es nicht zurückzahlte. Ich lernte Inga Lill kennen, wir bekamen Julie. Aber Inga Lill ist nicht mehr da, und ich komme nicht allein zurecht. Beim Gedanken an Inga Lill verkrampft sich alles in ihm, wütend wischt er sich eine Träne von der Wange. Verzweifelt preßt er sich die Hand aufs Gesicht, will es wieder zurechtrücken, will der Alte werden, den er kennt, will offen in die Welt sehen können. Er beißt die Zähne zusammen, spürt, wie die Bartstoppeln über seine Finger kratzen. Sein Blick wandert durch das Zimmer und bleibt vor einer von Julies alten Kinderzeichnungen stehen. Mutter, Vater und Kind, dicht nebeneinander unter einer riesigen Sonne. So ist es nicht mehr, denkt er, ich habe es zerstört, und das verzeiht sie mir nicht. Er erinnert sich daran, wie er sie zum ersten Mal gesehen hat, einen gesunden Säugling von fünfzig Zentimetern. Als sie ein Jahr alt war und Inga Lill anfing, sie mit Brei zu füttern, nahm sie gewaltig zu und sah aus wie ein kleiner hellroter Krapfen. Als sie mit anderthalb Gehen lernte, wurde sie wieder dünner. Mit fünf Jahren fing sie an zu reiten, und diese harte Arbeit schlug sich bald in kleinen steinharten Muskeln nieder, vor allem in Oberschenkeln und Oberarmen, sie hatte einen Bizeps wie ein Junge. Er ballt die Fäuste. Er denkt, wenn die Polizei mich nicht jagt, dann jage ich mich selbst ins Verderben. Verwirrt starrt er aus dem Fenster, er wünscht, daß die Welt sich als neu offenbart, daß es den 7. November niemals gegeben hat. Sein Blick wandert weiter. Vor der Wand steht eine alte Seekiste. Die hat er von seinen Eltern geerbt. Im Laufe der Jahre ist sie so oft gestrichen worden, daß sich unter der jetzigen tiefgrünen Farbe eine unbekannte Anzahl von Farbtönen verbirgt. Die Kiste fungiert als Sitzbank, sie ist ein grobgetischlertes Möbelstück, nicht sonderlich elegant, aber überaus geräumig und solide. Er hat als Kind mit baumelnden Beinen darauf gesessen. Jetzt enthält die Seekiste alles mögliche. Bürsten und Wischlappen, Fett und Schuhcreme. Und den Beutel mit Harriets Silber. Charlo bleibt stehen und starrt die Kiste an. Er reißt sich von der Spüle los, geht durch das Zimmer, öffnet den Deckel, wühlt mit den Händen zwischen Schuhen und Bürsten, nimmt den Beutel heraus. Es ist ein grünweißkarierter Beutel und die Buchstaben J.T. sind mit rotem Garn darauf gestickt. Er ist schwerer, als er es erinnert. Er kippt den Inhalt auf den Küchentisch, Messer, Gabeln und Löffel. Sahnekännchen und Zuckerschale, Kerzenhalter und Vasen. Weil alles eingewickelt war, funkelt es wie neu. Vielleicht hat es Harriet als eine Art Investition gesammelt. Vielleicht hat sie es geerbt, von ihrer Mutter oder anderen. Er zieht ein Messer aus einer Plastikhülle und hält es ins Licht. Sieht sich den Stempel an. Das Messer weist nicht einen Kratzer auf. Er erkennt das Muster nicht, aber es sieht kostbar aus, und alt. Vermutlich ist es sehr viel wert. Der Hehler, denkt er, der schwache Punkt, ob ich das wage? Ohne Hehler ist das Silber wertlos. Trotzdem ist er ein Mann, der ein Gewerbe betreibt, sie müssen sich einfach aufeinander verlassen. Er muß anrufen, die Nummer liegt in seiner Brieftasche, aber noch zögert er. Will, daß alles sich legt und zur Ruhe kommt. Nein, es wird niemals Ruhe geben, für den Rest seines Lebens muß er in diesem Sturm stehen, und er besitzt keine Taue mehr, es ist, als könnte er jeden Moment abheben und wie eine leere Papiertüte davongetragen werden. Seine Finger fangen an zu zittern. Wieder bricht in ihm eine Lawine los, als er zurückdenkt und sich erinnert. Er beugt sich über den Tisch und atmet mehrmals tief durch. Was er aus ihrem Schmuckkasten genommen hat, stellt wohl keinen besonderen Wert dar, er hat eine Perlenkette, vermutlich Imitat, zwei Ringe, ein silbernes Armband und eine scheußliche alte Brosche. Eine Kamee. Aber die goldene Uhr. Die hebt er hoch, wiegt sie in der Hand.

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