Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
ernstgenommen? Er denkt an die junge Floristin, und ihm wird schlecht, denn aus irgendeinem Grund ist er sicher, daß sie sich an ihn erinnert. Nein. Das kann nicht sein, sie wird ihn nicht genau beschreiben können, ich sehe doch so normal an, denkt er, so anonym. Aber das Blut jagt ihm in den Kopf, und als ein Wagen neben ihn fährt, duckt er sich, als suche er etwas. Es wäre vielleicht besser, erst mal im Haus zu bleiben, denkt er, bis das vorüber ist. Er schaltet und fährt. Die Spraydose rollt auf dem Boden hin und her, sein Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Er kramt die Floristin in Gedanken hervor, um festzustellen, woran er sich erinnern kann. Konzentriert sich, schließt die Augen. Sie erscheint vor seinem inneren Auge in ihrer ganzen jugendlichen Schönheit, mit den blonden Zöpfen und dem roten Pullover. Ihre Hände und ihre Augen. Die Ringe an ihren Fingern, ihre niedliche Art zu reden. Er hält vor dem Haus und geht hinein. Setzt sich an den Küchentisch und stützt das Kinn in die Hände.
Warum sollte sie sich an mich erinnern?
Weil du nervös warst. Weil du ein ganz besonderes Licht in den Augen hattest.
Das ist doch Unsinn. Ich war vielleicht schweigsam und ablehnend, ansonsten aber ziemlich anonym.
Alle haben etwas Besonderes an sich. Sie ist intelligent, jung und aufmerksam, sie hat alles registriert. Und natürlich erkennt sie ihren Strauß, sie ist doch Künstlerin.
Aber das war ganz kurz vor Feierabend. Da war sie sicher müde.
Versuch doch nicht, dich selbst zum Narren zu halten. Es ist nur eine Frage der Zeit, dann stehen sie vor der Tür, Charlo. Wenn es um Mord geht, dann geben sie sich niemals geschlagen.
Er reibt sich fest die Augen und denkt an Julie. Vielleicht sitzt sie jetzt über ihren Hausaufgaben. Er sieht sie deutlich vor sich, die roten Haare, die über ihren Rücken fließen, ihr Gesicht in tiefer Konzentration über den Büchern. Was ist das für ein Auto, das dort kommt, ein grauer Volvo, den hat er schon einmal gesehen. Nein, das ist nur Einbildung, außerdem ist er grün. Sie wissen nicht, wer er ist. Sie wissen nicht, wo er wohnt oder was er getan hat. Er beugt sich über den Tisch. Horcht in die Stille hinaus. Es summt leise. Abends löscht er alle Lampen, die anderen werden glauben, daß er verreist ist. Ich bin einsam, denkt er, aber ich habe keine Schulden mehr. Die Dunkelheit beschützt ihn und beruhigt ihn, nur der Fernseher leuchtet blau.
Die Unruhe ist die ganze Zeit da.
Dieses Bohren, dieses Summen in seinem Kopf stört ihn. Immer wieder kehrt er zu seiner Kindheit zurück. Die Bilder sind so hell und leicht, er fühlt sich dort wohl, kommt langsam zur Ruhe, denkt an seine Mutter, denkt an ihre Fürsorge und ihr tiefes, warmes Lachen. Und an den Vater mit den breiten Schultern. Wieso bin ich so schwach geworden, fragt er sich, aber im selben Moment fällt ihm sein Verbrechen ein, daß er getötet hat. Wieviel Kraft er angewandt hat, wieviel Mut er aufbringen mußte, um an Harriets Tür zu klingeln. Daß er sich erheben konnte, daß er von den Knien aufstehen und dermaßen viel Gewalt anwenden konnte. Wo er doch noch niemals einem anderen Menschen etwas angetan hatte. Er denkt an ihr mageres Gesicht, verzerrt vor Wut und Angst. Und seine eigene Angst jagte ihn weiter durch die Serie der harten Schläge. Die Panik hat ihn weitergetrieben und ihm Kraft gegeben. Nein, er will wieder in seine Kindheit, die Kindheit ist zu einem Fluchtort geworden. Der Tag und der Augenblick sind unerträglich, er denkt nur an sein Verbrechen, an den Zusammenprall. Alles hat sich festgefahren, er steckt fest in einem Dickicht. Wenn er ißt, bleibt ihm jeder Bissen im Hals stecken. Er starrt verstohlen seine Hände an. Sehen die jetzt nicht dunkler aus? Hatte er immer schon so rote Hände? Er krümmt sie, öffnet sie wieder, denkt an die Mechanik zwischen Kopf und Hand. Millionen von Impulsen bringen die Hände dazu, sich zu öffnen und zu schließen, lassen die Beine gehen. Was ist mit dem Herzen, denkt er, spielt das Herz eine Rolle? Nein, das Böse sitzt im Kopf. Er legt die Hände um seinen eigenen Kopf und drückt zu. Hier drinnen, denkt er und senkt das Kinn auf die Brust, hier drinnen ist es gewachsen, und ich habe es nicht gewußt. Von Anfang an war ich schwach, und diese Schwäche kann genetisch sein. Aber Mutter ist doch stark, fällt ihm dann ein, und Vater war ein ehrlicher, hart arbeitender Mann. Er steht am Fenster und schaut hinauf auf die vielen unschuldigen
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