Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
unterschätzt, jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit. Er legt die Hand aufs Herz, das klopft so heftig. Nein, sie versuchen es nur, sie überprüfen alle Möglichkeiten. Und er wird nur als Zeuge gesucht. Aber er kann sich nicht melden. Und das ist natürlich ebenfalls verdächtig. Er gerät in Verzweiflung. Und dann ist da noch das mit dem Knie. Wieder befällt ihn dieses schleichende Gefühl, er geht ins Badezimmer, streift die Hose herunter. Das Knie sieht ganz normal aus, er vergleicht es mit dem rechten. Ich war nur achtlos, denkt er, die Beine haben sich ineinander verheddert, und da bin ich auf den Asphalt gefallen, das ist kein Grund zur Aufregung. Aber er weiß, daß das nicht stimmt, denn eine innere Stimme widerspricht, quengelt über Gelenkschwäche. Er will nichts hören, er zieht die Hose hoch und tritt vor den Spiegel. Die Schürfwunde ist harmlos. Er bringt es nicht einmal über sich, ein Pflaster daraufzukleben. Er geht ins Wohnzimmer und liest die dritte Zeitung. Auch dort gibt es ein Bild von Sejer, schräg von der Seite aufgenommen, ein Mann mit markanten Zügen und kurzen grauen Haaren. Dieselbe Geschichte über den Unfall in Hamsund. »Wir überprüfen einfach den gesamten Verkehr in der Gegend«, betont Sejer. »Deshalb wäre es gut, mit dem Mann in Kontakt zu kommen, der am 7. November abends bei der Eisenbahnkreuzung mit einem Toyota Yaris zusammengestoßen ist. Da er sich in der Umgebung aufgehalten hat, in der der Mord geschehen ist, hat er vielleicht etwas beobachtet, das für uns wichtig sein kann.«
»Wissen wir, was dieser Mann für ein Auto fuhr?« fragt der Pressevertreter. Die Frage ist in Fettschrift gesetzt.
»Wir haben Grund zu der Annahme, daß es sich um einen roten Honda Accord handelt.«
Charlo geht ans Fenster, er starrt hinaus auf die Straße. Was ist mit Nachbar Erlandson? Auch der liest Zeitungen. Vielleicht hat er die Beule im Kotflügel gesehen, möglich wäre das. Er ist so neugierig, dieser Erlandson, dauernd steht er am Fenster und glotzt. Für einen Moment wird Charlo von Angst überwältigt. Sie sind einem roten Honda auf der Spur. Das Bein trägt ihn nicht mehr. Steht da unten nicht ein grauer Volvo, der kommt ihm bekannt vor. Das alles, was hier über ihn hereinbricht, wäre niemals passiert, wenn er Inga Lill hätte behalten dürfen.
Wie sehe ich eigentlich aus, habe ich irgendwelche besonderen Merkmale? Schüttere Haare und grüner Parka, an mehr kann er sich nicht erinnern, der junge Mann im Toyota, ich habe mich ja so unmöglich aufgeführt, daß er sich die Details nicht merken konnte. Jedenfalls nicht die Autonummer. Teile davon vielleicht. Dann suchen sie und eliminieren. Sie kommen zum Haus und stellen Fragen, ich werde nervös. Mein Blick irrt umher, ich verwickele mich in Widersprüche. Das tue ich nicht, ich habe mich unter Kontrolle. Ich muß mich konzentrieren. Er ballt die Fäuste und öffnet sie wieder, stützt sich auf die Fensterbank. Manche kommen doch ungeschoren davon. Du sollst schweigen!
INGA LILL STEHT am Herd und brät Fisch, das riecht gut. Charlo hilft Julie beim Ausziehen. Sie trägt eine Stoffschicht über der anderen, und ganz innen findet er ein warmes schmächtiges Mädchen mit dünnen Armen und Beinen. Sie reißt sich los und stürmt in die Küche, könnte platzen vor Aufregung über alles, was passiert ist.
»Wo um alles in der Welt habt ihr denn gesteckt?« fragt Inga Lill und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Es ist warm in der Küche, sie brät Fisch.
»Ich bin auf einem Pony geritten«, sagt Julie. Sie springt auf und ab, ihre roten Haare hüpfen mit.
»Auf einem Pony geritten?« fragt Inga Lill bestürzt.
»Ja, wir waren im Reitzentrum, und da durfte sie es mal probieren«, sagt er. »Nur ein paar Runden.«
»Und jetzt krieg ich da Stunden«, erzählt Julie. »Papa hat ja gesagt.« Sie läßt sich auf einen Stuhl fallen und stützt die Ellbogen auf den Tisch. Inga Lill schiebt die Ellbogen weg. Dann nimmt sie Fischstücke aus der Bratpfanne und legt sie auf eine Platte.
»Darüber müssen wir erst einmal sprechen«, sagt sie. »Das ist doch sicher teuer.«
Charlo geht zu ihr, schaut Julie an und zwinkert ihr zu.
»Da gibt es nicht viel zu diskutieren«, sagt er. »Verlaß dich einfach auf mich.«
Er schaut sie vielsagend an, nickt zu Julies rotem Kopf hinüber und verdreht die Augen, um das zu erklären, was er hier soeben erlebt hat. Aber Inga Lill hat nichts erlebt, sie spannt die Schultern an und ist
Weitere Kostenlose Bücher