Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
wartet, fühlt sich ausgeliefert. Später wird er sich an diesen Moment erinnern. Der Arzt taucht in der Tür auf, gefolgt von einer Krankenschwester. Er hat einen Stapel Papiere in der Hand. Charlo setzt sich im Bett auf, in seinem Kopf spürt er ein leises Hämmern. Endlich darf er nach Hause. Sein Körper ist auf alle erdenklichen Weisen untersucht worden. Julie wartet, sie werden essen gehen. Alles wird sein wie früher. Er hofft, Schweiß läuft ihm über den Rücken.
»Herr Torp«, sagt der Arzt. »Wir müssen miteinander reden.«
Er tritt ans Bett und zieht einen Stuhl heran. Charlo weiß nicht, ob es ein gutes Zeichen ist, daß der Arzt sich zu ihm setzt. Vielleicht will er nur die Möglichkeit nutzen, kurz seine Beine auszuruhen, vielleicht wird das, was er zu erzählen hat, viel Zeit in Anspruch nehmen. Oder er setzt sich, um den Ernst der Lage zu betonen. Denn jetzt ist Ernst mit im Spiel, Charlo schaut verstohlen zu den Unterlagen hinüber, das ist seine Zukunft, das ist das Urteil. Die Schwester bleibt am Fußende stehen. Charlo hebt das Kopfende an und legt das Kissen zurecht. Sein Herz hämmert unter seiner Schlafanzugjacke.
»Wir haben jetzt einige Untersuchungen durchgeführt, und mit Hilfe dieser Untersuchungen können wir einiges über Ihre Probleme sagen.«
»Ja und?«
Er nickt ernst, faltet die Hände, sitzt im Bett wie ein alter Mann.
»Manche Krankheiten werden in erster Linie durch die Symptome diagnostiziert. Mit anderen Worten, nicht immer gelingen uns physische Funde.«
Charlo nickt. Wieder hört er das Hämmern, es ist jetzt lauter.
»Was Sie betrifft, haben wir nur wenige Fundstücke, doch zusammen mit anderen Beobachtungen und Ihrer Wahrnehmung der Symptome sind wir ziemlich sicher, womit wir es zu tun haben. Ich meine, wir verfügen über die Kriterien, um eine sichere Diagnose zu stellen.«
Charlo ist so nervös, daß er mit offenem Mund dasitzt. Er sieht, daß der Arzt Anlauf nimmt, er verzieht den Mund.
»Lassen Sie mich das so sagen. Sie leiden an einer Krankheit im zentralen Nervensystem. Diese Krankheit ist chronisch. Ich werde versuchen, es Ihnen verständlich zu erklären, es ist ein komplizierter Sachverhalt.«
Charlo nickt und wartet.
»Wir reden hier über die Sehnenscheiden, die die Nerven umgeben. Sie wissen, die Nerven sind eingepackt in etwas, das man mit einer Art Isoliermaterial vergleichen kann. Oder einem Futter, wenn Sie so wollen. Und dieses Futter kann in manchen Fällen von etwas angegriffen werden, das wir Sklerose nennen. Diese Sklerose zerstört im Laufe der Zeit das Futter, und im Gewebe entstehen kleine Löcher. Nach und nach wird das Gewebe hart, ungefähr so wie Narbengewebe. Das können wir dann auf den Röntgenbildern sehen. Bei Ihnen sind diese Nervenscheiden etwas ausgefranst. Das wiederum führt dazu, daß die Impulse sich verzögern. Die Impulse, die Arme und Beine dazu bringen, sich zu bewegen, auf die Weise und in der Schnelligkeit, an die Sie gewöhnt sind.«
»Ja und?«
Charlo nimmt diese Informationen in sich auf, er versucht, mitzukommen, fühlt sich aber hilflos. Er sieht nicht klar. Er ist wirr im Kopf.
»Außerdem haben wir in der Spinalflüssigkeit Funde gemacht, die diese Theorie unterstützen. Und Sie haben erzählt, daß Sie mehrere klinische Attacken erlebt haben, und deren Lokalisierung stützt ebenfalls unsere Theorie. Als Kind waren Sie oft erkältet. Und Sie haben Probleme mit dem Sehvermögen gehabt, nicht wahr?«
»Doch.«
Er muß sich anstrengen, um dieses kleine Wort zu formulieren. Er fühlt sich versteinert, wie er hier im Bett sitzt.
»Bei der klinisch-neurologischen Untersuchung haben wir an mehreren Stellen in Ihrem Körper eine reduzierte Sensibilität registriert. Bisher noch in bescheidenem Ausmaß, aber wiederum entspricht es unserem Krankheitsbild. Es gibt auch eine Andeutung einer Temporeduktion. Leider können wir nichts für das bereits angegriffene Gewebe tun. Das läßt sich nicht wiederherstellen. Aber wir können mit Hilfe von Medikamenten diese Attacken verkürzen. Falls das aktuell wird. Das hängt von der Entwicklung ab.«
»Der Entwicklung?«
Charlos Mund ist wie ausgetrocknet. Er begreift nicht, wovon der Arzt da redet, worauf er hinauswill.
»Diese Krankheit hat ein sehr wandelbares Erscheinungsbild. Niemand kann voraussagen, wie hart Sie angegriffen werden. Manche kommen sehr gut zurecht. Eigentlich hat nur ein Drittel, oder sagen wir, ein Viertel der Patienten größere Probleme. Die
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