Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
über das Blut diagnostiziert werden, Sie müssen also weitere Tests machen. Vor allem können dadurch bestimmte Dinge ausgeschlossen werden.«
»Aber, ins Krankenhaus?« stammelt Charlo. Wieder überkommt ihn die Unruhe, er hat tausend Fragen. Er war noch nie im Krankenhaus, noch nie hat ihm etwas gefehlt, noch nie hat er sich verletzt.
»Wir brauchen mehr Informationen«, sagt der Arzt, »und Sie dürfen sich keine unnötigen Sorgen machen.«
»Aber«, sagt Charlo verzweifelt, »ich habe eine Tochter, und ich muß sie von der Schule abholen. Sie muß in den Stall, wir haben ein Pferd«, erklärt er eifrig, »das braucht jeden Tag Pflege. Ich arbeite auch im Reitzentrum. Ich werde da jeden Tag gebraucht.«
Der Arzt nickt ruhig. »Sie bekommen natürlich eine Krankenbescheinigung von mir. Wie gesagt, es dauert ein paar Tage. Ich finde, wir müssen jetzt feststellen, was los ist. Stimmen Sie mir da nicht zu?«
Charlo nickt bedrückt. »Doch. Natürlich. Aber was können Sie sonst sagen, haben Sie einen Verdacht? Ich meine, kennen Sie diese Symptome?«
Der Arzt schweigt einige Sekunden. Er wendet seinen Blick vom Bildschirm ab und sieht Charlo an. »Es wäre nicht richtig von mir, hier mit Spekulationen anzufangen«, sagt er. »Das überlasse ich den Fachleuten. Sie werden in den besten Händen sein.«
»Aber neurologisch?« bricht es aus Charlo heraus. »Wieso gerade dahin?«
»Es ist nicht sicher, ob es ein neurologisches Problem ist«, sagt der Arzt rasch. »Aber irgendwo müssen wir ja anfangen. Versuchen Sie, ruhig zu bleiben. Es wird sicher alles wieder in Ordnung kommen.«
Charlo wartet, während der Arzt die Überweisung schreibt. Er mustert seine Hände, und ab und zu läßt er seinen Blick durch das Sprechzimmer schweifen. Er entdeckt ein Schaubild des menschlichen Körpers, wo alle Knochen und Muskeln und Sehnen eingezeichnet sind. Das ist wirklich eine ziemliche Maschinerie, denkt er, es ist ein Wunder, daß es so gut funktioniert, Jahr für Jahr. Kein Wunder, wenn da mal Sand im Getriebe ist. Es muß ja nichts Ernstes sein. Aber die Vorstellung, ins Krankenhaus zu müssen, ist ihm unerträglich. Er fühlt sich klein. Er denkt an Inga Lill und alles, was sie durchmachen mußte. Der Arzt ist jetzt fertig. Er fragt, ob Charlo Schmerzen hat, ob er etwas braucht. Charlo schüttelt den Kopf. Sie reichen einander die Hand. Der Arzt wünscht ihm alles Gute. Charlo schleppt sich aus der Praxis, bleibt auf der Straße stehen und saugt die frische Luft tief in sich ein. Er findet das alles so unwirklich. Er geht weiter und fühlt sich gesund und munter. In ihm arbeiten alle Muskeln, an seinem Skelett ist nichts auszusetzen. Um drei Uhr holt er Julie aus der Schule ab.
Sie mustert ihn besorgt.
»Neurologisch?«
Auch ihr macht dieses Wort angst. »Medizinisch« wäre besser, denkt Charlo, weniger bedrohlich.
»Kannst du mit dem Bus zum Stall fahren?« fragt er. »Es ist nur für zwei Tage, dann bin ich wieder da, das verspreche ich dir.« Sie nickt, schaut ihn mit ernster Miene an.
»Mach dir keine Sorgen um mich«, sagt sie ruhig, »ich komm da schon hin.« Er fährt, die Gedanken wirbeln durch seinen Kopf. Gerade jetzt, denkt er, wo alles so schön war. Jetzt, wo es Ordnung und Freude und Arbeit gibt, kommt dieser bedrohliche Schatten und verdunkelt alles. Er versucht, dieses Gefühl abzuschütteln, seine Hände umklammern das Lenkrad, wieder kommt er sich gesund und munter vor.
»Die werden merken, daß du nicht da bist«, sagt Julie, »auch wenn es nur zwei Tage sind. Møller hat sich so daran gewöhnt, du nimmst ihm doch alles ab. Er lobt dich in den höchsten Tönen, ist dir das überhaupt klar?«
Charlo nickt zufrieden. »Weißt du was?« fragt er. »Ich finde dieses Gefühl, unentbehrlich zu sein, einfach wunderbar. Ich hatte vergessen, wie schön es ist.«
Mehr sagen sie nicht. Draußen gleitet die Landschaft vorbei, er sieht, daß die Apfelbäume weiß und rosa blühen, daß das Gras zwischen den Schneeflecken patinagrün ist. Kann es denn möglich sein, daß ihm das alles genommen werden soll? Er denkt nicht oft an den Tod. Jetzt sieht er, daß alles so deutlich ist, die Sonne hoch oben, der tiefblaue Himmel, das Brummen des Motors, Julies Atem. Er fühlt sich quicklebendig. Ja, das wird mir genommen werden, kommt ihm in den Sinn, denn alle Menschen sterben. Aber es darf nicht jetzt sein. Ich habe ein paar schöne Jahre zusammen mit Julie verdient. Er sieht sie an, schräg von der Seite. Wir
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