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Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)

Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)

Titel: Der Mord an Harriet Krohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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Prognose muß also gar nicht so schlecht sein. Wir können nur hoffen, daß Sie nur in unbedeutendem Ausmaß angegriffen werden, und das kommt ja auch vor.«
    »Aber was wird passieren, wenn es schlimmer wird? Werde ich dann immer wieder umkippen?«
    »Wie gesagt, ich will hier nicht den Propheten spielen«, sagt der Arzt. »Wir brauchen Zeit, wir müssen sehen, wie die Sache sich entwickelt.«
    »Aber kann ich gelähmt werden? Wollen Sie das sagen?«
    »Dazu kann es nur im allerschlimmsten Fall kommen. Aber wir wollen doch positiv sein, es steht durchaus nicht fest, daß Ihnen das passiert.«
    »Aber es könnte passieren?«
    »Im schlimmsten Fall, ja. Aber die Aussicht, daß Ihnen das erspart bleibt, ist recht groß.«
    Charlo fährt mit den Händen über seinen fast kahlen Kopf.
    »Ja, aber hat das denn einen Namen? Von welcher Krankheit ist hier eigentlich die Rede?«
    Der Arzt schlägt die Augen nieder und schaut in seine Unterlagen.
    »Die Krankheit hat ihren Namen danach, was gerade mit Ihnen geschieht. Im Gewebe, das die Nerven umgibt, entsteht eine Sklerose.«
    »Ja?«
    Der Arzt schaut ihn mit ernster Miene an.
    »Multiple Sklerose.«
    Charlo sinkt auf sein Kissen zurück. Sein Blick irrt durch das Zimmer, vor seinen Augen scheint alles zu schwanken. Nein, denkt er, sie irren sich. Leute mit multipler Sklerose werden doch gelähmt, sie enden im Rollstuhl. Sie leben nicht einmal besonders lange. Ich muß nach Hause, denkt er. Julie und ich wollen essen gehen, ich kann nicht hier liegenbleiben und mir diesen Unsinn anhören.«
    »Sie möchten vielleicht jemanden anrufen?« fragt der Arzt leise. Er nickt zum Telefon hinüber. Er scheint das Zimmer verlassen zu wollen. Er hat nichts mehr zu sagen.
    »Multiple Sklerose?« flüstert Charlo. »Sind Sie ganz sicher?«
    Der Arzt schaut zur Schwester hinüber.
    »Ja, wir sind ziemlich sicher. Ihre Symptome sind typisch für diese Krankheit. Versuchen Sie, ruhig zu bleiben. Sie können noch viele gute Jahre haben, das wissen wir noch nicht.«
    Ja, das hat er immer geglaubt. Noch viele gute Jahre mit Julie und Crazy. Sein Mund ist so trocken. Er will aus dem Bett aufstehen. Er will auf seinen Beinen stehen und sich und den beiden Weißgekleideten zeigen, daß er gesund ist. Noch ist er gesund, seine Beine tragen ihn. Seine Finger fangen an, unkontrolliert zu zittern. Verzweifelt schiebt er sie unter die Decke.
    »So, wie es jetzt ist«, sagt der Arzt, »können Sie einfach nach Hause fahren. Und Sie müssen mit Ihrem Hausarzt in Kontakt bleiben. Er wird Ihnen genauer erklären, welche Medikamente es gibt, falls es also soweit kommt, daß Sie welche brauchen.«
    Charlo nickt hilflos. Bestimmt ist das hier ein böser Traum, aus dem er bald erwachen wird. Dann gehen sie einfach, und er liegt wieder allein. Das Zimmer kommt ihm groß und kalt vor, er zieht die Decke hoch, will sich vor aller Welt verstecken. Das hier passiert nicht, denkt er. Warum geschehen ausgerechnet mir immer solche Katastrophen? Er ist so erschüttert, daß ihm schlecht wird. Er schlägt die Decke beiseite, steht auf und geht zum Spiegel. Bleibt dort stehen und starrt sich an, das breite Gesicht, die grauen Augen. Die Angst hat sie heller werden lassen. Er bleibt eine Weile so stehen und stützt die Hände auf das Waschbecken. Dann geht er wieder zum Bett, packt seine wenigen Habseligkeiten zusammen, zieht sich an. Eine Krankenschwester erscheint mit Papieren, fragt, ob er ein Taxi braucht. Er schüttelt kurz den Kopf. Nein, er ist mit dem Auto da, er braucht keine Hilfe, überhaupt keine. Er ballt die Fäuste. Spürt, daß ihm die Tränen kommen, sie drücken ihm die Kehle zusammen, sie brennen hinter seinen Augenlidern. Die Schwester bleibt trotzdem stehen und mustert ihn mit sanftem Blick. Damit er seiner Verzweiflung freien Lauf lassen kann, wenn er will. Den Kopf an ihren Kittel legen und wie ein Kind schluchzen. Das tut er nicht, er kehrt ihr den Rücken zu und zieht die Schultern hoch. Hört, daß sie geht und die Tür hinter sich schließt. Er zieht seine Daunenjacke an, sieht sich im Zimmer um. Und dann geht er mit raschen Schritten hinaus.
    Er kommt nach Hause und läßt sich in einen Sessel fallen.
    Die Tasche knallt auf den Boden. Er bringt es nicht über sich, sie auszupacken, sie wird mit Pantoffeln und Schlafanzug dort stehenbleiben und ihn an diesen entsetzlichen Tag erinnern. Multiple Sklerose. Dieses Wort liegt wie ein riesiges schleimiges Insekt in seinem Mund, plötzlich überkommt

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