Der Mord zum Sonnntag
an.
«Wenn wir uns nur einen guten Lehrer leisten könnten»,
seufzte Wilma und versuchte, den Seitenhieb zu
überhören.
«Ernie sollte Willie nicht auch noch ermutigen», meinte
Dorothy schonungslos. «Sag ihm, er soll kein solches
Theater um das Zeug machen, das sie nach Hause schickt.
Bei euch sieht es aus wie in einem von einem Irren
entworfenen Vogelhaus. Wie geht es Ernie? Du hältst ihn
hoffentlich von Bars fern. Hör auf mich: Er hat die
Anlagen zum Alkoholiker. All diese geplatzten Äderchen
auf seiner Nase.»
Wilma dachte an die übergroßen Weihnachtspakete von
Wee Willie, die vor einigen Tagen eingetroffen waren. Erst zu Weihnachten öffnen, stand auf ihnen, und im
Begleitbrief hatte sie geschrieben: «Warte, bis du sie
siehst, Mutter. Ich bin jetzt bei Pfauen und Papageien.»
Wilma dachte auch an die kürzliche Weihnachtsfeier im
Kaufen-Sie-Hier-Einkaufszentrum, bei der Ernie zuviel
getrunken und eine Kellnerin in die Kehrseite gezwickt
hatte.
Obwohl Dorothy damit recht hatte, daß Ernie dem
Alkohol nicht widerstehen konnte, ärgerte sich Wilma
darüber, daß sie ihr die Wahrheit so schonungslos unter
die Nase rieb. «Ernie wird vielleicht unvernünftig, wenn er
ein oder zwei Gläschen zuviel getrunken hat, aber in
bezug auf Wee Willie irrst du dich. Sie hat wirklich
Talent, und wenn ich zu Geld komme, werde ich ihr
helfen, das zu beweisen.»
Dorothy schenkte sich noch eine Tasse Tee ein. «Du
vergeudest offenbar immer noch dein Geld für
Lotterielose.»
«Klar», antwortete Wilma fröhlich; sie mußte sich
bemühen, ihre gute Laune zu retten. «Heute abend ist die
Weihnachtsziehung. Wenn ich zu Hause wäre, würde ich
vor dem Apparat sitzen und beten.»
«Die Zahlenkombination, die du ständig spielst, ist
lächerlich. 1-9-4-7-5-2. Ich kann verstehen, daß eine Frau
das Jahr wählt, in dem ihr Kind zur Welt kam, aber das
Jahr, in dem Ernie von der High-School abging? Das ist
kindisch.»
Wilma hatte Dorothy nie erzählt, daß Ernie sechs Jahre
gebraucht hatte, um sich durch die High-School zu
kämpfen, und daß seine Familie nach dem Examen den
ganzen Block zur Feier eingeladen hatte. «Die schönste
Party, auf der ich jemals war», erzählte er Wilma immer
wieder und strahlte noch bei der Erinnerung. «Sogar der
Bürgermeister ist gekommen.»
Außerdem mochte Wilma diese Zahlenkombination. Sie
war davon überzeugt, daß sie und Ernie eines Tages mit
ihr viel Geld gewinnen würden. Nachdem sie Dorothy
gute Nacht gesagt und vor Anstrengung keuchend die
Couch zurechtgemacht hatte, auf der sie bei ihren
Besuchen schlief, dachte sie darüber nach, daß Dorothy
von Mal zu Mal bissiger wurde. Sie redete ihren
Gesprächspartnern ein Loch in den Bauch, und es war kein
Wunder, daß ihre Schwiegertochter sie als «unerträgliche
Nervensäge» bezeichnete.
Am nächsten Tag stieg Wilma zu Mittag in Newark aus
dem Zug. Ernie sollte sie abholen. Als sie zu ihrem
Treffpunkt beim Haupteingang der Station kam, erblickte
sie zu ihrem Schrecken aber statt Ernie ihren Nachbarn
Ben Gump.
Sie lief auf ihn zu; ihr üppiger Körper war vor Spannung
verkrampft. «Ist etwas geschehen? Wo ist Ernie?»
Bens hageres Gesicht verzog sich zu einem Lächeln.
«Nein, es ist alles in Ordnung, Wilma. Ernie ist mit einem
Anflug von Grippe oder etwas Ähnlichem aufgewacht und
hat mich gebeten, dich abzuholen. Ich habe ja nichts zu
tun und kann den ganzen Tag lang zusehen, wie das Gras
wächst.» Er lachte herzlich über diesen Witz, der seit
seiner Pensionierung sein Markenzeichen war.
«Grippe», spottete Wilma. «Ich fresse sofort einen Besen
…»
Ernie war ein ruhiger Mann, und Wilma hatte sich auf
die friedliche Heimfahrt gefreut. Beim Frühstück hatte
Dorothy, die ihre Zuhörerin verlor, nonstop gesprochen,
ein Wasserfall von bissigen Bemerkungen, und Wilma
hatte Kopfschmerzen bekommen.
Um sich durch Bens Schneckentempo und seine
langatmigen Geschichten nicht aus der Ruhe bringen zu
lassen, konzentrierte sie sich auf den angenehm
aufregenden Augenblick, wenn sie sofort nach ihrer
Ankunft die Lotterieergebnisse in der Zeitung aufschlagen
würde. 1-9-4-7-5-2, 1-9-4-7-5-2, summte sie vor sich hin.
Natürlich war das dumm, die Ziehung war ja vorbei – aber
sie hatte trotzdem ein gutes Gefühl. Ernie hätte sie
bestimmt angerufen, wenn sie gewonnen hätten, aber
selbst wenn sie nur in die Nähe gekommen waren,
vielleicht drei oder vier der sechs Zahlen erraten hatten,
wußte
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