Der Mord zum Sonnntag
habe, wenn sie zu anderen Männern zu
freundlich war.
Doch da Lou, der Barmann, Jimbos Vetter war, hatte
dieser nichts dagegen, wenn Loretta in den Nächten, in
denen er mit einem Ferntransport unterwegs war, in der
Bar saß. Das Lokal war schließlich ein beliebter
Treffpunkt. Eine Menge Ehefrauen kamen mit ihren
Freundinnen hierher, und Loretta meine: «Jimbo kann
nicht erwarten, daß ich allein in die Röhre gucke oder auf
Tupperware-Partys gehe, wenn er Knoblauchknollen oder
Bananen spazierenfährt. Da ich aus einer berühmten
Künstlerfamilie stamme, brauche ich Menschen um
mich.»
Lorettas bevorzugtes Gesprächsthema war ihre Karriere
im Showgeschäft; sie wurde im Lauf der Jahre immer
großartiger. Das war auch der Grund, warum Loretta –
obwohl sie Mrs. Jimbo Potters hieß – stets ihren
Künstlernamen Thistlebottom verwendete, wenn sie von
sich sprach.
In dem spärlichen Licht, das die Kugellampe – eine
Tiffany-Imitation – auf die verschrammte Theke warf,
bewunderte der schweigsame Ernie Loretta wortlos. Sie
mußte bereits Mitte Fünfzig sein, hatte aber noch immer
eine sehr, sehr gute Figur. Trotzdem beschäftigte er sich
nicht weiter mit ihr. Das Lotterie-Gewinnlos, das er mit
einer Sicherheitsnadel an seinem Unterhemd befestigt
hatte, erwärmte seine Herzgegend. Es war, als glühe dort
ein Feuer. Zwei Millionen Dollar! Das waren mit Zinsen
zwanzig Jahre lang hunderttausend Dollar jährlich. Und
soviel würden sie bis weit in das einundzwanzigste
Jahrhundert beziehen. Vielleicht wären Sie dann sogar in
der Lage, mit dem Reisebüro Cook auf den Mond zu
fliegen.
Ernie versuchte, sich Wilmas Gesichtsausdruck
vorzustellen, wenn sie von dem Gewinn erfuhr. Wilmas
Schwester Dorothy besaß keinen Fernsehapparat und hörte
nur selten Radio, deshalb wußte Wilma in Philadelphia
noch nicht, daß sie reich war. In dem Augenblick, in dem
Ernie die gute Nachricht in seinem Kofferradio gehört
hatte, war er eine Sekunde lang in Versuchung gewesen,
zum Telefon zu stürzen und Wilma anzurufen, hatte aber
sofort erkannt, daß es so keinen Spaß machen würde. Erst
als er daran dachte, daß Wilma am nächsten Tag nach
Hause kommen würde, lächelte er glücklich, so daß sein
rundes Gesicht wie ein fröhlicher Pfannkuchen aussah. Er
würde sie am Bahnhof in Newark abholen. Sie würde ihn
fragen, wie nahe sie an einen Gewinn herangekommen
wären. «Haben wir zwei von den Zahlen richtig? Oder
drei?» Er würde behaupten, daß sie nicht einmal eine Zahl
richtig hatten. Wenn sie dann nach Hause kamen, würde
ihre Strumpfhose auf dem Kaminsims hängen wie damals,
als sie jung verheiratet waren. Früher hatte Wilma
Strümpfe und Strumpfbänder getragen. Jetzt trug sie
Strumpfhosen in Übergröße, mußte sich also bis zur
Zehenspitze durcharbeiten, um das Los herauszuholen.
«Such nur», wollte er sagen, «du wirst überrascht sein.» Er
konnte sich genau vorstellen, wie sie ihn jubelnd umarmen
würde.
Als er Wilma vor vierzig Jahren geheiratet hatte, war sie
ein verdammt niedliches junges Mädchen gewesen. Doch
war ihr Gesicht noch immer hübsch, und ihr weiches,
weißblondes Haar war naturgewellt. Sie war kein
Revuegirl wie Loretta, aber er mochte sie, wie sie war.
Manchmal war sie schlecht gelaunt, weil er gelegentlich
mit den Jungs einen hob, aber für gewöhnlich war Wilma
ein prima Kerl. Was das für ein Weihnachten dieses Jahr
werden würde! Vielleicht würde er mit ihr zu Fred, dem
Pelzhändler, gehen und ihr einen Lammfellmantel oder so
was kaufen.
Ernie bestellte seinen vierten Seven and Seven, während
er darüber nachdachte, was für ein Vergnügen es sein
würde, seine Großzügigkeit zur Schau zu stellen. Doch
seine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, weil Loretta
Thistlebottom mit einem eigentümlichen Ritual
beschäftigt war. Alle paar Minuten legte sie die Zigarette
in ihrer rechten Hand in den Aschenbecher, stellte den
Bierkrug in ihrer linken Hand auf die Theke und kratzte
die Handfläche, die Finger und den Rücken der rechten
Hand kräftig mit den langen, spitzen Fingernägeln der
Linken. Ernie bemerkte, daß die rechte Hand entzündet,
hochrot und mit kleinen, gemein aussehenden Blasen
bedeckt war.
Es wurde spät, und die Gäste brachen allmählich auf.
Das Paar, das neben Ernie im rechten Winkel zu Loretta
gesessen hatte, machte sich ebenfalls auf den Weg. Loretta
sah, daß Ernie sie beobachtete, und zuckte mit den
Schultern.
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