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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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weh… Ich wußte, daß ich mich, wann immer ich Nozhat sehen würde, stets an ihn erinnern würde. Vorausgesetzt, ich würde Nozhat wiedersehen. Und ich sagte laut, »Falls ich Nozhat wiedersehe. Falls ich Nozhat wiedersehen werde.«
    Stimmen hinter mir sagten durcheinander, »Sie ist wahnsinnig geworden. Die Ärmste, sie ist durchgedreht«, und ich schrie, »Falls ich Nozhat wiedersehen werde.«
    Ich wollte aufstehen. Was war denn das? Was war mit meinem Rücken geschehen? Ich konnte mich nicht mehr aufrichten. Meine Knie blieben gebeugt. Ich schleppte mich zur Mauer. Als würde die Sonne nicht mehr scheinen. Ich murmelte, »O Mutter. O Vater.«
    Niemand war da.
    »O liebe Amme, willst du mir nicht helfen?«
    Jemand sagte mitleidig, »Komm, setz dich hierher.«
    Ich folgte wie ein Lamm. Es war offenbar ein Schemel oder etwas Ähnliches. Vier oder fünf Frauen und Männer hatten mich umringt. Die Augen der Frauen voller Tränen, die Gesichter der Männermürrisch und verschlossen. Natürlich, weshalb war es mir nicht eher eingefallen? Meine arme, gewöhnliche Schwiegermutter besaß doch nicht soviel Verstand. Da Rahim nicht zur Stelle war, da wir keinen Mann im Haus hatten, hatte sie die Hände in den Schoß gelegt und wehklagte. Ich hob den Kopf. Ich richtete mich mühsam wieder auf. Ich atmete flehentlich und mit offenem Mund. Hechelnd sagte ich, »Um Gottes willen… gehen Sie und holen Sie einen Arzt… der Mann des Hauses ist nicht da.«
    Ich wußte nicht, weshalb sie einander ansahen. Weshalb sie die Köpfe senkten. Weshalb sie sich nicht rührten.
    »Geht doch und holt einen Arzt!…«
    Einer sagte sanft, »Es nützt nichts mehr.«
    Das Wort ›nichts mehr‹ kreiste in meinem Hirn, und plötzlich kam ich wieder zur Besinnung. Was sollte ›nichts mehr‹ bedeuten? Bedeutete ›nichts mehr‹, daß es zu spät war? Bedeutete es, daß Almass gestorben war?…
    Als ich sprach, wunderte ich mich über meine Stimme. Darüber, daß meine Kehle so trocken war. Ständig versuchte ich, den nicht vorhandenen Speichel herunterzuschlucken, um sprechen zu können, aber es gelang mir nicht. Meine Unterlippe sprang auf. Meine Mundwinkel klebten zusammen. Als hätte man mir eine Kugel in die Kehle gepreßt. Meine Stimme kam tief, rauh und belegt aus der Kehle. »Was ist geschehen?«, fragte ich.
    »Er ist ins Becken gefallen.«
    Was sollte das bedeuten? Bestimmt hatten sie sich geirrt. Unser Becken war doch nicht tief. Seine Großmutter war doch da gewesen.
    »Ins Becken? Welches Becken?«
    »Das Becken im Haus von Agha Sseyyed Taghi, dem Gewürzhändler.«
    »Ist er tot?«
    Schweigen.
    Ich schrie, »Ist er tot?…«
    So unversehens hatte ich ihn verloren. Wie ein Fisch war er mir aus den Händen geglitten und entflohen. Aller Leute Kinder waren gesund. Alle hielten sie die Hände ihrer Mütter. Jetzt würden alle nach Hause gehen. Froh darüber, daß dieses Unglück nicht ihre Söhne getroffen hatte. Es war nur mir zugestoßen. Sie würden sagen,»Siehst du, mein Kind, hatte ich dir nicht gesagt, du sollst nicht ans Becken gehen?« Und ich, mutterseelenallein, mitten in diesem Hof… Außerdem wurde ich nicht mehr schwanger.
    Ich kippte um wie eine Kerze. Jemand fing mich auf, »Geht und holt ihren Mann. Sie ist ohnmächtig geworden.«
    Ich bekam nicht mehr mit, was um mich herum geschah. Trauer und Klage kann man doch nicht beschreiben. Als Rahim kam, hatte man mich ins Zimmer gebracht. Er stieg die Stufen hoch. Seine Augen waren gerötet. Die Verhätschelungen widerten mich an. Weshalb kümmerten sie sich so sehr um mich? Weshalb ließen sie es nicht zu, daß ich in den Hof ging? Ich sagte, »Rahim, hol ihn hierher. Draußen ist es kalt.« Ich hatte meine Hand flehentlich ausgestreckt.
    Rahim lehnte sich mit roten Augen an den Pfeiler und starrte mich wortlos an.
    D as Haus war wie ausgestorben. Es herrschte Waffenstillstand. Meine Schwiegermutter auf der einen Seite des Hofs und ich auf der anderen. Rahim hielt es nicht aus. Ständig ging er aus dem Haus. Ich wünschte, er wäre bei mir. Daß ich meinen Kopf auf seine Schulter legen könnte und er meine mageren Schultern streichelte. Ich wünschte mir sagen zu können, ›Rahim, der Kummer bringt mich um, hilf mir.‹ Ich wünschte mir, daß er antworten würde, ›Tu’s nicht, Mahbub Djan, tu dir das nicht an.‹ Ich wünschte mir, daß er nachts wie ich wach blieb und die Decke anstarrte. Daß er meine Tränen sehen würde, die lautlos auf das Kopfkissen rollten.

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