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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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des Winters gewesen. Ich ging gemächlich und munter. Die Sonne wärmte meinen Körper. Für meinen Sohn hatte ich die Körner des indischen Hanfs gekauft.
    Ich bog in unsere Gasse ein und zuckte beim Anblick der Menge, die sich dort gesammelt hatte, zusammen. Dieses liederliche Volk war sogar im Winter auf den Gassen unterwegs. Und so viele! Was für ein Auflauf! Viel zu groß, als daß man ihn mit dem üblichen Klatsch von Nachbarn beim Knacken von Kürbiskernen erklären konnte. Was hatten die Männer hier zu suchen? Und so viele? Ich war rund hundert Schritt von der Menge entfernt. Ich hörte einen Schrei. Offenbar war unserem Nachbarn etwas zugestoßen. Die Frau des Nachbarn kreischte. Nein, ich irrte. Sie stand dort bei unsererHaustür und sah mich an. Sie hatte sich nicht einmal vollständig verschleiert. Wir starrten einander an. Ich hatte meinen Gesichtsschleier hochgeschlagen. Sie trug einen Gebets-Tchador. Es war, als wären unsere Augen durch eine Gerade miteinander verbunden. Meine Augen blickten fragend, und ihre in Qual versunken. Die Besitzerin dieser Augen litt und trauerte. Dann durchtrennte sie dieses Band und wandte sich schmerzerfüllt von mir ab. Jemand sagte, »Seine Mutter ist gekommen.«
    Mir sank das Herz in die Knie. Was sollte das heißen? Meinten sie mich? Was war los? Was war geschehen? Ich rannte. Die Haustür stand offen. Ich drängte die Menge beiseite. Sämtliche Bewohner des Viertels waren da. Im Korridor zum Hof standen zwei oder drei Personen. Einer der Jungen, der häufig mit Almass auf der Gasse spielte, stand ebenfalls dort. Sein Gesicht war gerötet, offenbar von Schlägen und vom Weinen. Ich hörte ein Kreischen. Es war die Stimme meiner Schwiegermutter. Ich hockte mich entsetzt hin, packte den Jungen an seinen mageren Schultern und fragte, »Was ist passiert? Was ist passiert? Sag schon.«
    Er winkelte den Arm über dem Kopf an, um sich vor möglichen Schlägen zu schützen und begann zu plärren. Ich wußte nicht, wie mir zumute war. Zwei Frauen aus dem Viertel standen mitten im Hof dem Flur gegenüber. Ich erhob mich und stieg die Stufen zum Hof hinunter. Meine Schwiegermutter war barhäuptig und riß sich ihre zerzausten weißen und rötlichen Haare aus und schlug sich auf die Brust. Als sie mich erblickte, schrie sie, »O weh…, bist du gekommen? Komm und sieh, was für ein Unglück dir widerfahren ist!« Sie schlug sich auf die Oberschenkel und beugte sich vor und zurück, »Komm und sieh, wie mir das Herz zerbricht.«
    Ich blickte mich im Hof um. Auf einem Holzbrett lag ein kleiner Körper unter einem weißen Tuch. Ich wußte nicht, was vorgefallen war. Wer war dieser kleine Körper? Ich wollte es nicht wissen. Je später ich es begriff, desto besser. Aber eine Stimme in mir sagte, ›Es ist Rahim. Es ist Rahim!‹ Und ich starrte von dem Punkt aus, an dem ich wie festgenagelt stand, auf das weiße Tuch. Mit einem Blick wie zwei züngelnden Flammen, die den Stoff durchbohren wollten und sich davor fürchteten. Jemand lag da. Rahim lag da. Aber Rahim war doch im Geschäft! Rahim war doch nicht so klein! Meine Schwiegermutter stieß einen Schrei aus undschlug sich an die Brust, »O weh, mein Ali Asghar…, o weh, mein Ali Asghar…«
    Nein, ich durfte es nicht glauben. Weshalb hatte sich die Sonne so verfinstert? Weshalb kam ich mir hier so fremd vor? War ich das, die da stand? Starrten die Leute mich an? Unmöglich, daß es mir zugestoßen war. Anderen vielleicht, aber nicht mir. Ali Asghar war ein Kind gewesen. O weh, war das also Almass? Dort, unter diesem weißen Tuch? Das Hammam-Bündel fiel mir aus der Hand. Ich rannte los. Jemand versuchte, mich am Arm festzuhalten. Der Tchador glitt mir vom Kopf. Ich erreichte das weiße Tuch. Ich bückte mich, um es beiseite zu schlagen. Ich traute mich nicht. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich auf das Weiße, wollte es jedoch nicht sehen. Je später, desto besser. Solange ich es nicht gesehen hatte, wußte ich es nicht. Wenn ich es sehen würde, wäre es vorbei. Ich schlug das Tuch beiseite und sah es. Sein rundes, pausbäckiges Gesicht mit den langen Wimpern und dem hellem Teint, völlig naß. Mit nassen Haaren. Aber er war doch nicht ins Hammam gegangen. Weshalb war es denn naß? Seine Augen waren geschlossen. Seine Augen, die denen seines Vaters glichen. Plötzlich bemerkte ich es. Zum ersten Mal bemerkte ich, wie sehr er Nozhat ähnelte. Mit diesen vollen Lippen und kugelrunden Wangen. Als würde Nozhat schlafen. O

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