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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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Verdacht geschöpft. Doch sie war wie ausgestorben. Die Menschen waren alle in ihrem Mittagsschlaf versunken. Es war das dritte oder vierte Mal, und ich wollte schon zurückkehren. Eine sehr klein gewachsene junge Frau bog von der Haupt- in die Seitenstraße ein. Ich stand am anderen Ende der Seitenstraße und war weit entfernt. Dennoch bückte ich mich, wie um Staub vom Saum meines Tchadors zu schütteln, und sah sie, wie sie in das Gäßchen einbog, an dessen Ende sich die Tür von Rahims Geschäft befand. Sie hatte ihren Gesichtsschleier hochgeschlagen. Ganz langsam näherte ich mich mit klopfendem Herzen. Das Geräusch der Säge war nicht mehr zu hören. Vorsichtig lugte ich in das Gäßchen. Die junge Frau war dick und füllig. In ihrem abgetragenen, verblichenen Tchador glich sie einem Melonenkürbis. Ich sah nicht ihr Gesicht, da sie zu weit entfernt war, aber ich sah, wie sie kokettierte. Es schien mir, als würde ich auch ihr Lachen hören. Eine Hand kam aus dem Geschäft und packte ihren vom Tchador bedeckten Arm. Die junge Frau wollte um sich schauen, ob jemand sie sah. Ich zog mich zurück. Als ichwieder hinsah, war niemand in dem Gäßchen. Rahim hatte sie in das Geschäft gezogen. Es dauerte ein, zwei Minuten. Ich kochte vor Zorn. Nicht aus Kummer über den Verlust einer Liebe. Ich fühlte mich wie am Boden zerstört. Daß dieser gemeine Kerl dieses nichtswürdige Mädchen ebenso behandelte, wie er mich einst behandelt hatte. Er glich einer Spinne, die erneut ihr Netz gesponnen hatte, um die Fliege zu fangen. Der Tod meines Sohns hatte unserer Liebe den Todesstoß versetzt. Wie ein geschliffener Säbel hatte er mit einem Hieb unsere Herzen voneinander getrennt, und nun streute Rahim durch sein schamloses Verhalten Salz in diese Wunde.
    Die junge Frau verließ das Geschäft und ging auf die Seitenstraße zu. Ich zog mich zurück und kehrte eilig zur Hauptstraße zurück. Ich hatte diese kaum erreicht, als sie an mir vorbeiging. Sie atmete heftig. Ich weiß nicht, ob vor lauter Erregung oder wegen ihrer Dickleibigkeit. Sie war dabei, ihren Gesichtsschleier herabzuziehen. Nur einen Augenblick lang konnte ich ihr feistes Profil sehen, das gerötet war. Wie ein aufgequollener Hefekloß. Eine breite Nase, als hätte man mit der Faust draufgeschlagen, die in ihrem Gesicht versank und deren Spitze ohne Übertreibung bis an ihre Lippen reichte. Da lobte ich mir doch Koukab… Ich erinnere mich nur noch an das abstoßende Profil und die kurze, dickleibige Gestalt, die vorbeiwalzte und sich entfernte. Unwillkürlich heftete ich mich an ihre Fersen. Zwei Gassen weiter bog sie rechts ab und verschwand am Ende einer Sackgasse zwischen den Flügeln der niedrigen Holztür eines kleinen Hauses. Verwirrt stand ich mitten auf der Gasse und blickte mich um. Ich wollte gerade umkehren, als eine Frau die Tür des einzigen Hauses links von mir öffnete. Sie fragte, verblüfft über mich, die ich ratlos nach rechts und links schaute, »Chanum, kann ich Ihnen helfen? Wessen Haus suchen Sie?«
    Ich sammelte mich und ging direkt auf sie zu. Ich war dankbar, daß der Gesichtsschleier mein Gesicht verhüllte. Es war, als würde mir jemand die Worte in den Mund legen, »Chanum, ich wollte um die Hand des Mädchens aus diesem Haus anhalten. Für meinen Bruder. Aber vorher wollte ich ein paar Erkundigungen einholen, was für Menschen es sind. Kennen Sie sie?«
    Unter dem Tchador zitterte ich am ganzen Körper. Die Frau warf einen verstohlenen Blick auf das Haus und sagte anzüglich, »Ach wo!… Die haben doch keine Tochter. Die kriegen keine Kinder!«
    »Und wer ist dann dieses rundliche, kurz gewachsene Mädchen?«
    »Die, die auf einem Auge schielt? Das ist die Tochter der Schwägerin von Chawar Chanum. Die Tochter des Bruders ihres Ehemanns. Meistens treibt sie sich hier herum.«
    Ich empfand Schadenfreude. Asche auf dein Haupt, Rahim. Das war, was du verdientest. Ich fragte, »Wie heißt sie?«
    »Sie heißt Ma’sume.«
    »Was für einen Beruf hat ihr Vater?«
    »Ihr Vater ist Polizist.«
    »Was für eine Art Mädchen ist sie? Ist sie gebildet, kann sie was?«
    Sie lachte, »Was sie kann?« Dann senkte sie ihre Stimme und sagte leise, »Aber Sie haben es um Gottes willen nicht von mir gehört! Sie sind ein ganz übles Pack, Chanum. Sie eignen sich nicht für Sie. Das Mädchen ist liederlich. Es läßt sich nicht bändigen. Seine arme Tante ist völlig verzweifelt, doch wenn sie etwas sagen will, prügelt ihr Ehemann sie grün

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