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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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Aber Rahim war nicht da. Er war mir keine Stütze. Mir schien, als würde ich zwischen Himmel und Erde hin und her taumeln.
    Die Amme kam. Ich hörte, wie sie mit meiner Schwiegermutter sprach. Zehn, fünfzehn Tage waren vergangen. Ich sah, wie sie weinend die Treppe hochstieg. Sie schloß mich in ihre Arme. Ich sagte, »O weh, Amme, Amme, Amme!« Und meine Tränen schossen hervor.
    Zur Dämmerung ging die Amme fort, kehrte jedoch bald wieder zurück.
    »Weshalb bist du zurückgekehrt, liebe Amme?«
    »Ich bleibe bei dir. Ich werde ein paar Tage bei dir bleiben.«
    »Was hat Chanum Djan gesagt?«
    »Was sie gesagt hat? Sie weint und klagt.«
    »Und mein Agha Djan?«
    »Er sitzt allein im Zimmer, läßt das Tasbieh durch die Finger gleiten und ist stumm wie ein Fisch. Er ist kreidebleich.«
    Nachts streckte sie sich neben mir aus. Rahim schlief im Nebenzimmer. Ich flüsterte, vergoß Tränen und schüttete ihr mein Herz aus. »Liebe Amme, seine Handrücken waren vom Lehm ganz rissig geworden und brannten. Liebe Amme, wenn er fluchte, schlug ich ihn auf den kleinen Mund… Liebe Amme, wenn ich mich mit Rahim stritt, fürchtete er sich und weinte… Liebe Amme, ich hatte keine Weizen- und Hanfkörner für ihn.«
    Die Amme weinte, »Hör auf damit, Mahbube, du wirst dich noch selber umbringen. Man muß ein Kind doch erziehen. Alle schlagenihre Kinder. Sollte etwa niemand mehr sein Kind züchtigen, aus Angst, es könnte eines Tages ins Becken fallen?«
    Der Kummer peinigte mich und trieb mich in den Wahnsinn. Ständig zitterte mein Kinn. Ständig weinte ich. Sobald ich essen wollte, wurde ich an ihn erinnert. Wo war er jetzt? War er hungrig? War er allein? Nicht, daß er sich etwa vor der Dunkelheit fürchtete. Oh, weh, liebe Amme… Die Amme sagte, »Rahim Chan, machen Sie einen Ausflug mit ihr. Nehmen Sie sie auf eine Wallfahrt mit.«
    Rahim schüttelte bedauernd den Kopf. Das bedeutete, es würde nichts nützen.
    Ich konnte meine Schwiegermutter nicht mehr ertragen. Rahim sprach ebenfalls nicht mit ihr. Hundert Mal hatte ich ihr gesagt, ›Laß nicht zu, daß dieses Kind sich auf der Gasse herumtreibt.‹ Vom Hören ihrer Stimme im Hof bekam ich eine Gänsehaut. Es war die Stimme Ezraels.
    Ich wollte nicht durch diese Gasse gehen. Ich wollte nicht das Haus des Spezereienhändlers Agha Sseyyed Taghi sehen. Die Todesstätte meines Sohns. Ich sah nicht in den Winkel des Hofs. Als hätte man ihn noch immer unter jenem weißen Tuch aufgebahrt. Nachts schlief ich nur mühsam ein. Aber was für ein Schlaf! Was hätte ich um hundert schlaflose Nächte gegeben. Ich mochte nicht schlafen, ich fürchtete mich davor. Ich träumte, er sei im Zimmer, und wachte auf. Er saß am Korsi und preßte sich an mich. Ich wachte wieder auf. Er rannte mir weinend hinterher. Ich schreckte hoch. Auch wenn ich ihn im Traum sah, war es mit Schmerz und Kummer verbunden, da ich wußte, daß es eine Täuschung war. Ich wußte, daß ich träumte. Nacht für Nacht rief in meinem unruhigen Schlaf und meinen qualvollen Träumen eine Frau nach jemandem. Ich hörte es aus der Ferne, aus sehr weiter Ferne.
    Mein Ali Asghar… o, mein Ali Asghar…
    Drei Monate vergingen, und nach und nach glätteten sich die Wogen meiner Qual. Äußerlich verlief das Leben in seinen normalen Bahnen, auf seinem Grund hatten sich jedoch Kummer und Schmerz abgelagert, die bei der geringsten Erschütterung an die Oberfläche stiegen und meine Seele verfinsterten. Es waren Qualen, die nicht zu beschreiben sind, und ich wünschte mir von Gott, niemand möge je solche Qualen spüren.
    Rahim überwand den Kummer rascher als ich. Eines Morgens sah ich völlig verblüfft, daß er meinen Holzkamm genommen hatte, sich frisierte und seinen Schnauzbart in Fassung brachte. Sich nach links und nach rechts wandte und sich im Spiegel über dem Kamin musterte. Wie konnte er nur so unbekümmert sein!
    Ich ließ ihn nicht an mich heran. Wie könnte ich? Ich sollte hier fröhlich sein, und mein Kind dort… Nein, ich konnte es nicht. Es lag nicht in meiner Hand. Einige weitere Monate vergingen. Ich war benommen vor Kummer. Ich hatte keine Lust zu Streit und Gezänk. Wann kam Neujahr? Wann war es vorbei? Wann war der Frühling vergangen, ohne daß ich ihn bemerkt hatte?
    Eines Nachts saßen Rahim und ich nach dem Abendessen im Salon. Ich stickte. Ich hatte keine andere Beschäftigung. Rahim saß mir gegenüber. Ich hob den Kopf und sah ihn an, als wäre ich nach langer Zeit aus dem Schlaf

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