Der Morgen der Trunkenheit
Chanum. Bitte treten Sie ein. Haben Sie schon gefrühstückt? Hadi Djan, lauf und hol etwas zu essen.«
Ich log, »Ja, Chanum, vielen Dank. Nein, Hadi Chan, bitte machen Sie keine Umstände.« Vor Hunger war mir ganz flau im Magen.
Sie sagte, »Dann trinken Sie bitte eine Schale Tee. Sie ist Ihrer nicht würdig.« Sie lächelte mich so liebevoll an, daß ich mir auf die Lippe biß, um nicht in Tränen auszubrechen.
Sie ließ die Zimmertür offenstehen. Ich setzte mich auf einen Sessel neben das Fenster. Sie zog die Vorhänge beiseite, damit mehrSonne ins Zimmer fallen konnte. Die Sonnenstrahlen fielen auf meine linke Körperhälfte. Wie eine Hand, die mich streichelte und meinen ausgekühlten, müden Körper wärmte.
Ein paar Minuten vergingen mit regem Treiben. Hadi kam. Er trug ein relativ großes, rundes Kupfertablett. Seine Mutter, die nach ihm eintrat, zog einen Beistelltisch vor mich. Ich sagte, »Bitte machen Sie keine Umstände.«
»Ich bitte Sie! Was für Umstände? Wir haben doch nichts getan! Sie müssen entschuldigen.« Hadi stellte das Tablett auf den Tisch, mit Tee, Zucker, Brot, Butter und Sauerkirschenmarmelade.
Es war, als verstünde Esmat Chanum etwas von Psychologie. Sie sagte, »Bis Sie es sich haben munden lassen, gehe ich kurz in die Küche. Ich bin gleich wieder zu Diensten.«
Sie verließ mit Hadi das Zimmer. Im Hof tuschelten sie miteinander. Offenbar schickte sie Hadi, der auf den Ausgang verzichtet hatte, einkaufen und ging selbst in die Küche.
Sobald Esmat Chanum verschwunden war, setzte ich mich wie eine dicke, verfressene Katze in die Sonne. Ich ließ den Zipfel meines Tchadors los und aß mich satt, während ich den Hof, die Blumen und die strahlende herbstliche Sonne betrachtete.
Esmat Chanum kam und nahm das Frühstückstablett mit. Ihre Gelassenheit versetzte mich in Erstaunen. Ich hatte den gewöhnlichen Gang des Lebens vergessen. Sie kehrte zurück und setzte sich neben mich. Ich hatte mich wieder vollkommen verhüllt, und sie sah mich verwundert an. Es war offensichtlich, daß sie sich fragte, weshalb ich mein Gesicht auch vor ihr verbarg. Ich wußte, daß ihr tausend Fragen auf der Zunge lagen. Weshalb war ich dort? Wo war mein Ehemann? Zweifellos hatte sie etwas gewittert. Sie vermutete etwas, war jedoch zu höflich, es sich anmerken zu lassen. Sie kannte ihre Grenzen. Sanft fragte sie, »Wie geht es dem Agha? Weshalb ist er nicht mitgekommen?«
Meine Gedanken irrten ab. Ich war durcheinander. Abwesend fragte ich, »Wie bitte? Was hatten Sie gesagt?«
»Ihr Ehemann. Ich fragte, wie es Ihrem Ehemann geht?«
Ich sagte, »Ich habe keinen Ehemann mehr.« Tränen füllten meine Augen. Ich senkte den Kopf, damit sie sie nicht sehen konnte.
Sie machte große Augen und sperrte den Mund auf. Erstauntfragte sie, »O weh, weshalb denn? Was ist geschehen? Haben Sie gestritten? Reden Sie nicht mehr miteinander?«
Mit gesenktem Kopf antwortete ich, »Dafür ist es schon viel zu spät.« – »Weshalb? Was hat er denn getan?«
Ich zog mir den Tchador vom Kopf und wandte ihr mein violett verfärbtes, geschwollenes Gesicht zu. Mit der rechten Hand schlug sie sich auf den Handrücken der Linken und sagte, »O, Gott lasse mich sterben. Ich werde Hadi sagen, daß er sofort geht und einen Arzt holt.«
»Nein, Esmat Chanum. Tun Sie das um Gottes willen nicht. Ein Arzt ist nicht nötig. Es wird schon von selbst heilen. Es ist ja nicht das erste Mal.«
»Es ist nicht das erste Mal? Hat er Sie schon öfter geschlagen? Gott lasse mich sterben. Der schamlose Kerl. Sieh nur, was er angerichtet hat!«
Ich sagte, »Macht nichts. Ich hab mich daran gewöhnt. Lassen Sie Hadi Chan zur Schule gehen.«
»Heute ist die Schule doch geschlossen. Es ist Eid-e Mab’ass. Hadi wollte woanders hingehen. Es war nichts Wichtiges.«
Also war heute ein Feiertag. Ich hatte sogar den Überblick über die Feier- und Trauertage verloren. Ich fragte, »Also ist heute ein Feiertag? Ist Hassan Chan auch zu Hause?«
»Mein Bruder ist ausgegangen. Aber zu Mittag kehrt er zurück. Wenn er bloß früher zurückkehren würde, damit wir entscheiden, was zu tun ist! Tut es sehr weh?«
»Mein Gesicht? Nein. Hier tut es weh.« Ich deutete auf mein Herz und plötzlich schossen mir die Tränen hervor. Ich konnte sie nicht mehr zurückhalten. Sie flossen, und ich wurde ihrer nicht Herr. Ohne um Mitleid heischen zu wollen und ohne Vorankündigung. Ohne, daß ich weinen wollte, schossen sie unaufhörlich hervor. Ich
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