Der Morgen der Trunkenheit
nicht. Ich sagte, du darfst nicht mal weinen. Gib ja keinen Laut von dir.«
Ich packte den Knoten ihres Kopftuchs an ihrer Kehle, zog ihren Kopf nah an mein blutunterlaufenes und verquollenes Gesicht und sagte leise und drohend, »Sperr deine Ohren auf und hör mir gut zu. Ich gehe durch diese Tür da.« Ich drehte mich um und deutete mit dem Finger der linken Hand auf den Korridor und die Haustür. »Du bleibst hier sitzen, bis dein nichtsnutziger Sohn nach Hause kommt. Weh dir, wenn du anfängst zu schreien. Sollte ich meinen Fuß aus dem Haus setzen und dich schreien hören, und wenn es am anderen Ende der Gasse sein sollte, ich kehre zurück. Ich erwürge dich und werfe dich in das Becken, damit alle denken, du seist ertrunken. Hast du das verstanden?«
Mit entsetztem Blick nickte sie. Sie konnte vor Angst nicht sprechen. Als hätte sie gespürt, daß ich nicht spaßte. Als hätte sie begriffen, daß ich rasend geworden war und daß man es mir zutrauen konnte. Ich war nicht weniger entsetzt als sie, da ich plötzlich bemerkte, daß ich ohne weiteres dazu fähig war und daß ich es bereitwillig tun würde. Es war keine leere Drohung, nicht nur Einschüchterung. Ich war überzeugt von dem, was ich sagte, und es wäre mir nicht schwergefallen, es auszuführen. Ich begriff, daß ich sie beim nächsten Wort, bei der kleinsten Klage oder angesichts einer Träne augenblicklich erdrosseln würde.
Eine Minute lang hockte ich ruhig da und starrte sie in Erwartung einer Bewegung oder eines Schreis an. Ich betete zu Gott, daß sie still bleiben und mir keinen Vorwand liefern würde. Diesmal erhörte Er meine Bitte. Die alte Frau war verängstigt. Sie saß reglos da, wie erstarrt. Ruhig erhob ich mich von meinem Platz.Ich trat ihr gegen die Knie. Welch guter Lehrer Rahim doch war, ein Meister im Quälen und Foltern. Und als was für eine gelehrige Schülerin hatte ich mich erwiesen. Hatte Rahim es ebenso genossen, mich zu verprügeln? Ich sagte, »All die Jahre habe ich dich respektvoll behandelt. Du hattest es nicht verdient. Ich wußte nicht, daß du die Sprache von Flüchen und Prügel besser verstehst. Du hast es dir verdient.«
Ruhig hüllte ich mich in den Tchador und nahm das Kästchen unter den Arm. Ich drehte mich nicht um, um den Hof, das Haus oder den leeren Platz meines Sohns zu betrachten. Ich kannte seinen Platz. Er lag auf dem Friedhof. Ihn konnte ich später besuchen. Kein Grund für einen Abschiedsblick. Ich öffnete die Tür, trat hinaus, schlug sie heftig hinter mir zu und war frei. Ich war nicht mehr an ihn gefesselt. Der Segenswunsch meines Vater hatte sich erfüllt. Es war die Jahreszeit, in der ich geheiratet hatte. Es war Herbst.
Drittes Kapitel
I ch lief durch die Gassen. Eine wiederauferstandene Tote, die umherwanderte. Ich war furchtbar müde. In meinem Kopf tobte es. Auf den Straßen Pferdegetrappel, knirschende Droschkenräder und Handkarren, lärmende Händler, das Gewimmel der Menschen und gelegentlich ein vorbeifahrendes Automobil. Ich hatte Kopfschmerzen. Wohin sollte ich gehen? Wohin? Mein Vater hatte gesagt, ›Solange du seine Frau bist, bist du nicht meine Tochter. Betritt nicht mein Haus.‹ Wohin sollte ich gehen? Zu meinen Schwestern? Mit diesem Aussehen? Sollte ich hingehen und sie vor ihren Ehemännern blamieren? Sollte ich zu Tante Keshwar gehen? Die Feindin meiner Mutter erfreuen? Sollte ich zu Onkelchens Haus gehen? Zu seiner Frau? Sollte ich mich mit diesem Äußeren erniedrigen? Wohin sollte ich gehen? Ich werde zu Mirza Hassan Chans Haus gehen. Zu Esmat Chanum, der Hawu meiner Mutter. Komme, was wolle. Ich wußte, daß ihr Haus zwei Gassen vom Haus meiner Tante entfernt lag. Ich wußte, daß sie Tar und Geige unterrichtete und in ihrem Viertel bekannt war. Ich nahm Richtung auf das Haus meiner Tante. Langsam und zu Fuß. Wozu sich beeilen? Auf dieser Welt erwartete mich niemand. Ich ging an der Hoftür des baumreichen Gartens meiner Tante vorbei und betrachtete sehnsüchtig die von der Herbstsonne vergoldeten Baumwipfel. Ich nahm die zweite Straße und bog links ab. Rechterhand zog sich die Mauer des Gartens meiner Tante scheinbar endlos in die Ferne. Diesen und jenen fragend fand ich das Haus. Eine Holztür, die einen Türklopfer in Gestalt eines Löwenkopfs trug. Ich blieb vor der Tür stehen. Was tat ich hier? Was für einen Skandal beschwor ich da herauf! Ich mußte umkehren. Aber wohin? Ich hatte alle Brücken hinter mir abgebrochen. Ich hatte mir keine Möglichkeit
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