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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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oder einen kleinen Buckel hatte. Seine tiefe Stimme klang väterlich. Als er eintrat, war mir der Tchador auf die Schultern gefallen. Ehe ich mich rühren konnte, grüßte er mich. Ich stand vor ihm auf. Noch ehe er sich gesetzt hatte, sagte er, »Chanum, wie hat dieser Mann Sie zugerichtet? Wie konnte er das bloß tun? Wie hat er es übers Herz gebracht? Eine so vornehme Dame wie Sie?«
    Ich sagte mir, wehe, wenn du weinst! Ich riß mich zusammen. Dennoch wurden meine Augen feucht. Er fragte, »Wofür haben Sie sich nun entschieden? Möchten Sie, daß ich vermittle?«
    »Nein, ich will mich scheiden lassen.«
    Er war weder verblüfft, noch widersprach er mir.
    »Weiß Ihr Vater Bescheid?«
    »Nein, ich bin zunächst hierher gekommen. Ich war durcheinander.Ich wußte nicht, was tun. Aber ich werde mich empfehlen. Ich gehe in mein Elternhaus zurück.«
    »Nein, Chanum, das ist überhaupt nicht ratsam. Es wäre nicht ratsam, wenn Ihre Frau Mutter Sie in diesem Zustand sehen würde. Warten Sie, bis ich zuerst Ihrem Vater Bescheid sage, daß er herkommt und Ihren Zustand sieht und dann entscheidet, was zu tun ist!«
    Esmat Chanum sagte, »Mein Bruder hat recht. Würden Sie sich nach so vielen Jahren in diesem erbarmungswürdigen Zustand vor Ihrer Mutter zeigen, sie würde, Gott behüte, sterben. Wir müssen nach Ihrem Agha Djan schicken.«
    Ich konnte nicht glauben, daß eine Hawu für die andere Mitgefühl empfand. Die Erfahrungen der vergangenen sechs, sieben Jahre hatten mich hartherzig werden lassen. Ich glaubte, alle Menschen dieser Welt seien unbeherrscht, gehässig und eigennützig. Nach und nach kehrte die Erinnerung an die Grundregeln menschlichen Verhaltens wieder und setzte sich in meinem Bewußtsein fest. Hassan Chan sagte, »Hadi, kannst du auf einen Sprung zu Herrn Bassir ol-Molks Haus gehen?«
    Hadi erwiderte diensteifrig, »Weshalb könnte ich nicht, lieber Onkel? Selbstverständlich kann ich.«
    Er war ebenfalls um mich bekümmert. Er wollte mir einen Dienst erweisen. Seine Mutter grub sich sanft die Nägel in die Wange und sagte, »Gott lasse mich sterben. Hadi ist doch bislang noch nie zum Haus des Agha gegangen. Der Agha hat es uns verboten. Die Chanum würde es möglicherweise bemerken, und es würde sie verärgern.«
    Hassan Chan winkte ungeduldig ab. »Ich weiß schon, was ich tu.« Er verließ das Zimmer und kehrte mit einem verschlossenen Umschlag zurück. Er reichte ihn Hadi und sagte, »Du gehst zum Haus von Herrn Bassir ol-Molk, klopfst an die Tür des Biruni und sagst, du hättest mit dem Agha zu tun. Wehe, du gehst hinein! Selbst, wenn sie darauf bestehen, tust du es nicht. Sag, es sei dir nicht erlaubt, einzutreten. Du gibst nur den Umschlag einem der Diener und schärfst ihm ein, ihn dem Agha persönlich auszuhändigen. Sag, es eilt.«
    Besorgt fragte ich, »Was haben Sie in dem Brief geschrieben?«
    In seinem beruhigenden Ton antwortete er, »Keine Bange, meineTochter, ich habe es nicht sehr ausgeschmückt. Ich habe geschrieben, ›Bitte bemühen Sie sich her, damit wir uns persönlich über Mahbube Chanums Probleme unterhalten können.‹ Ich habe mit meinem eigenen Namen unterschrieben. Das ist alles.«
    Vor Scham war ich wie schweißgebadet. Ich verfluchte Rahim. Ich hob den Kopf und sagte zu Hadi, »Entschuldigen Sie bitte, Hadi Chan, ich bereite Ihnen Umstände. Es wird Sie ermüden.«
    Er lächelte unschuldig und sagte freundlich und mit kindlicher Verlegenheit, »Nein, bei Gott, beim Leben meiner Mutter, es wird mich nicht ermüden. Ich gehe und kehre sofort zurück.«
    Wie naiv er war, wie unschuldig. Sechzehn Jahre, das Alter der Unschuld. Das Alter des Optimismus. Die Zeit der Ahnungslosigkeit. Die Zeit der Liebe und Freundschaft. Genau die Zeit, in der man ausgleitet und kopfüber stürzt. So, wie es mir geschehen war.
    Hadi ging, und mein Herz begann zu klopfen. Ich konnte nicht länger still sitzen. Ich wanderte umher und setzte mich wieder. Knetete die Hände. Nach so vielen Jahren würde mein Vater kommen. Ich würde ihn wiedersehen. Das heißt, sofern er mich wiedersehen wollte und kommen würde.
    Hassan Chan und Esmat Chanum trösteten mich. Mein Mund war ausgetrocknet. Mir war kalt. Esmat Chanum reichte mir Sherbet. Es ging ihr nicht sehr viel besser als mir. Hassan Chan saß am Rand des Eiwan, hatte den Ellbogen aufs Knie gestützt, ließ das Tasbieh durch die Finger gleiten und schüttelte bedauernd den Kopf. An der Tür klopfte es. Hassan Chan sagte, »Gehen Sie ins

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