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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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wollte nicht vor dieser Frau weinen. Ich wollte ihr meine Verzweiflung nicht zeigen. Ich schämte mich, meine Schwäche und mein Unglück vor ihr zur Schau zu stellen. Ich fürchtete, die Tränen würden mich in ihren Augen herabsetzen. Aber ich konnte nichts dafür. Ich, die nicht einmal Shemr bändigen konnte. Ich, die ich vor Stolz den Kopf in den Wolken trug, wurde nun von allen bemitleidet. Wenn nur die Quelle versiegen würde. Hätte ich mir nur das Bein gebrochen und wäre nicht hergekommen. Welch schwereStrafe für ein Auge, das gesehen, und ein Herz, das begehrt hatte. Nun mußte ich hier sitzen, in diesem Haus, im Haus dieser Frau, der Hawu meiner Mutter, die von nichts wußte, so daß sie mich mit offenem Mund fassungslos anstarrte. Daß ihr Sohn bekümmert die Hände faltete und dich vom Hof aus voller Mitleid und Bedauern verstohlen musterte. Daß Hassan Chan kommen und eine Lösung für dich finden würde. Was hatte ich nur verbrochen. Weine nur, damit sie dich eingehend mustern können. Aber nein, Esmat Chanum vergoß mehr Tränen als ich. Sie konnte nicht mehr aufhören. Ich sagte, »Sehen Sie nur, wie ich Ihnen an einem Feiertag zur Last falle! Ich habe auch Ihnen die Laune verdorben. Ich hatte vollkommen vergessen, daß heute ein Feiertag ist. Ich werde mich gleich wieder auf den Weg machen.«
    Sie sagte, »Ich bitte Sie. Was sind das für Worte? Das hier ist Ihr eigenes Haus. Denken Sie etwa, ich ließe Sie gehen? Bei Gott, es beleidigt mich, wenn Sie so etwas sagen. Hat Ihr Vater uns nicht soviel Gutes getan?… Sollten wir etwa jetzt, wo seine Tochter einen Tag lang bei uns zu Gast ist, sie in diesem Zustand gehen lassen?«
    Erneut flossen meine Tränen. Weshalb hörten sie nicht auf? Weshalb sprudelten sie gegen meinen Willen? Dennoch fühlte ich mich ruhiger und war erleichtert. Ich wünschte mir, mein Gesicht auf ihre Schulter zu legen und ihr wie einer Freundin das Herz auszuschütten. Wie warmherzig diese Frau war. Sie war mir fern und doch sehr nah. Ich fragte, »Wußten Sie, daß ich mich von mir aus in ihn verliebt hatte?« Sie wußte es. »Wußten Sie, daß ich mit Gewalt seine Frau geworden bin?« Sie wußte es. Ihr eigener Bruder hatte Rahim mitgenommen und einen Anzug für ihn gekauft. »Wußten Sie, daß ich einen Sohn bekam?« Sie wußte es. Mein Vater hatte es ihr erzählt. »Wußten Sie, daß mein Sohn im Becken ertrunken ist?« Sie wußte es. »Wußten Sie, daß es mir das Herz gebrochen hat?« Ihre Tränen bekundeten, daß sie es wußte und mit mir empfand. Schließlich hatte sie ebenfalls einen Sohn.
    Der Ruf zum Mittagsgebet ertönte, als sie das Mittagessen auftrug. So sehr ich darauf drängte, auf Hassan Chans Rückkehr zu warten, sie hörte nicht. Ihrer Ansicht nach war ich hungrig. Ich war geschwächt. Seit der vergangenen Nacht hatte ich nichts gegessen. Sie sagte, »Das Frühstück zählt doch nicht.«
    Ich mußte etwas essen. Ich mußte ein wenig zu Kräften kommen.Im Wohnzimmer saß ich zusammen mit Hadi und seiner Mutter um das Speisetuch, das auf dem Boden ausgebreitet war, und aß zu Mittag. Hadi betrachtete verstohlen mein Gesicht, sagte aber nichts. Sollte er es doch sehen. Mit mir war es vorbei, da spielte es keine Rolle mehr, wie viele davon wußten. Nach dem Mittagessen setzte ich mich auf Esmat Chanums Drängen wieder in den Sessel am Fenster in die Sonne und trank Tee. Ich war beruhigt und erleichtert. Ich streckte meine Beine aus. Den Kopf hatte ich an die Rückenlehne gelehnt und genoß die herbstliche Sonne. Nun fürchtete ich mich nicht mehr vor Rahims Rückkehr. Nun knirschte ich aus Empörung über seine Mutter nicht mehr mit den Zähnen. All das war jetzt weit von mir entfernt. Es gehörte der Vergangenheit an. Ich schlief dort ein.
    Gegen drei Uhr nachmittags wurde ich von Esmat Chanum geweckt, die mir sanft die Stirn streichelte. Ich öffnete die Augen und versuchte, mich zu erinnern, wo ich mich befand. Die Sonne war über meinen Körper gewandert, und der Winkel, in dem ich saß, lag im Schatten. War es Rahim? Seine Mutter? Nein, ach so. Wie gut, es war Esmat Chanum, die sanft und mütterlich sagte, »Mahbub Djan, Liebstes, wach auf. Hassan Chan möchte mit dir sprechen.«
    Hassan Chan war jünger, als ich ihn mir vorgestellt hatte, obwohl sein Haar grau meliert war. Er war von mittlerer Größe und besaß eine relativ große Nase. Seine Lippen waren voll, und sein Oberkörper war leicht vorgebeugt. Es war nicht festzustellen, ob er sich krümmte

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