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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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sich bis zu diesem Augenblick in der Nähe herumgetrieben und anschließend auf der Liege sitzend eine alte Zeitung gelesen hatte, legte diese auf die Erde und kam direkt auf mich zu. An meine Mutter gewandt, fragte er, »Frau Tante, es war abgemacht, daß ich heute Mahbube das Reh und die Hasen zeige. Erlauben Sie, daß sie mich begleitet?«
    Als hätte er meine persönliche Einwilligung vorab erhalten. Als sehnte ich mich ebenfalls danach, ihn zu begleiten. Mit keinem Wort fragte er mich, die ich den Kopf gesenkt hielt und meine Hände betrachtete, nach meiner Meinung.
    Meine Mutter sagte, »Was sitzt du noch herum, Mahbube? Steh auf, Agha Mansur wartet.«
    Ich streckte die Hand aus, um meinen Tchador zu nehmen und anzulegen. Die Frau des Onkels sagte, »Ach wo, mein Kind, der Tchador ist doch nicht nötig. Im Garten gibt es doch keine Unbefugten.Und Mansur ist dein Cousin. Die Ehen von Cousin und Cousine werden im Himmel geschlossen.«
    Ich errötete. Nicht vor Scham, sondern vor Zorn. Sie waren im Begriff, mich mit aller Gewalt an das Trauungstuch zu setzen. Mansur warf seiner Mutter einen scharfen Blick zu und sagte barsch, »Mama!« Ich empfand Schadenfreude. Doch hätten sie sich davon abschrecken lassen? Die Frau des Onkels und Chanum Djan brachen in Gelächter aus, das gar nicht aufhören wollte.
    Es schien, als hätte eine geheime Anweisung den Kindern verboten, den Garten zu betreten und uns zu folgen. Eine Anweisung, die absolut zu befolgen war und die keinen Scherz duldete. Es war still und menschenleer. Nur das Gezwitscher der Spatzen war zu hören und das Rauschen des Bachs, der durch den Mauerdurchbruch am Ende des Gartens hereinströmte. In Shemiran war die Luft nicht so warm wie in Teheran. Zu dieser Jahreszeit besaß sie eine angenehme Frische, die zusammen mit der Stille der großen, grünen Gärten und den sich dahinschlängelnden kühlen Bächen ein Hochgenuß war. Wie im Garten des Paradieses. In diesem etliche Hektar großen Garten des Onkels gab es alle Arten von Bäumen. An einigen Stellen waren Weinstöcke ans Spalier gebunden, und auf einem kleinen Abschnitt hatte man Mais angepflanzt. Wir Kinder fielen stets wie die Heuschrecken über die Maiskolben her. Je weiter wir uns dem Ende des Gartens näherten, desto zahlreicher wurden die Obstbäume und desto dichter standen sie beieinander. Apfelbäume und Birnbäume, auf die mein Onkel besonders stolz war, und dann der Duft der Walnußbäume, den ich so sehr liebte.
    Mansur begann ruhig und behutsam zu sprechen. Ich verstand überhaupt nicht, was er sagte. Ich zitterte am ganzen Körper aus Furcht vor dem, was ich tun wollte. Hundert Mal bereute ich und änderte doch wieder meine Meinung.
    Mansur fragte sanft, »Mahbube, hat deine Mutter mit dir gesprochen?«
    Ich stellte mich dumm, »Worüber?«
    Er lächelte sanft, »Du weißt ganz genau worüber.«
    Ich schwieg.
    In mildem Tonfall sagte er, als wollte er ein Kleinkind zum Narren halten, »Sag mir, was du dir wünschst, ich werde dir alles erfüllen.Ich mag nicht, daß du denkst, es ginge alles nur nach meinem Willen oder dem meiner Eltern. Wenn du es wünschst, werde ich dir ein separates Haus kaufen. Du brauchst nichts zu tun. Du mußt Klavierspielen lernen. Ich werde dir eine Lehrerin besorgen. Ich wünsche mir, daß du Französisch lernst…«
    »Ich habe bei Agha Djan Französisch gelernt.«
    »Um so besser, dann wirst du es vervollkommnen. Und du wirst sticken. Ich wünsche mir, daß du nur zu Einladungen ausgehst oder angesehene Damen bewirtest. Gäste wie dich selbst, wenn auch nicht von deiner Schönheit.«
    Mit einem Mal tat er mir leid. Er empfand für mich, was ich für Rahim den Schreiner empfand. Es war ein verrücktes Spiel. Er lächelte liebevoll, und sein warmer Blick fuhr über mein Gesicht. Er war ein Mann, der seine Ehefrau wirklich glücklich zu machen versuchte. Die Achtung, die er dem Familienleben entgegenbrachte, hatte er von seinem Vater geerbt. Mit einem Wort, Mansur hatte Adel. Er war wirklich ein Mensch. Das konnte nicht einmal ich leugnen. Und an diesem Punkt verzweifelte ich. Ich liebte ihn. Ohne Zweifel liebte ich ihn und war nicht bereit, ihn in Unglück und Elend zu sehen. Genau so, wie ich meine Cousinen liebte. Genauso, wie ich Manuchehr liebte.
    Wir gingen am Bach entlang. Mansur pflückte mir einen Apfel vom Baum. Inzwischen waren wir bei den alten Walnußbäumen angelangt. Jeder von uns blickte nur vor sich hin und war sich der Anwesenheit des anderen

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