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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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bewußt. Erneut war ich von einem gnadenlosen Zittern ergriffen. Jenem Zittern, das mich stets dann überfiel, wenn ich beschloß, jemandem mein furchterregendes und zerstörerisches Geheimnis zu enthüllen, das mich in Todesangst versetzte. Schon einmal war ich dem männlichen Ehrgefühl meines Vaters heil entronnen, und dieses Mal mußte ich auf die Konfrontation mit demselben Fanatismus und Ehrgefühl von seiten meines Cousins gefaßt sein. Ich mußte ihm eine Abfuhr erteilen und die handgreiflichen Folgen in Kauf nehmen. An jenem Tag sahen wir weder das Reh noch die Hasen. Wir gingen lediglich spazieren. Ich widerstrebend und lustlos und er voll unschuldiger Begeisterung und Zuneigung. Ich hielt an und setzte mich auf den Stumpf eines Walnußbaums neben das Wasser. Lächelnd fragte er, »Bist du müde?« Aus Boshaftigkeit antwortete ich nicht. »Weshalb sprichst du nicht? AlsKind warst du nicht so schüchtern. Hat dir die Katze die Zunge gestohlen?« und er fügte lächelnd hinzu, »Hier, den habe ich für dich gepflückt. Magst du keinen Apfel?«
    »Ich mag nicht.«
    Erneut verstummte ich. Ich spielte mit meinem Rockzipfel herum. Er faßte sich ein Herz und trat einen Schritt vor. Vertraulich stützte er seinen rechten Arm über meinem Kopf an einen Baum und stemmte die Linke in die Hüfte. Der Apfel lag noch in seiner Hand und hing über meinem Kopf. Unendlich sanft, so daß es vielleicht jedem anderen Mädchen in den Ohren geklungen hätte, fragte er, »Begehrst du mich ebenso sehr, wie ich dich begehre?«
    Nicht im Traum wäre ihm eingefallen, daß meine Antwort negativ ausfallen könnte. Unversehens hörte ich meine eigene Stimme. Ich weiß nicht, auf wessen Befehl meine Zunge sich rührte und »Nein« sagte.
    Mein Tonfall war dermaßen bitter und bissig, daß ich selbst darüber erschrak. Ich will nicht übertreiben, aber Mansur erbebte. Er faßte sich und fragte, »Weshalb?«
    »Nun, ich will halt nicht.«
    Er geriet außer sich und fragte, »Aber weshalb? Habe ich etwas Böses getan? Hat jemand etwas gesagt? Ist meine Frau Mutter mal wieder ins Fettnäpfchen getreten?«
    Flehentlich hob ich den Kopf, »Nein, nein. Um Gottes willen, nein, Mansur.«
    »Dann sag, was geschehen ist!«
    Er sah mich forschend und hartnäckig an. Ich fuhr fort, »Ich möchte es sagen, aber ich fürchte mich. Schwörst du, daß du kein Geschrei anfängst? Schwörst du, niemandem etwas zu sagen? Versprichst du es? Schwör es bei Onkelchens Leben.«
    Er war verstört, fand jedoch langsam wieder zu sich. Er sagte, »Sprich, ich sage es niemandem.«
    »Versprichst du es mir? Schwörst du es?«
    »Ich hatte gesagt, sprich. Beim Leben meiner Mutter werde ich niemandem ein Wort sagen. Was wolltest du sagen?«
    Ich befürchtete, seine Ungeduld würde sich, wenn ich noch weiter zögerte, in Zorn verwandeln. Ich sagte, »Mansur, ich… ich…, nicht, daß ich dich etwa nicht liebte. Du bist mir wie ein Bruder. Bei Gott, ich liebe dich wie Manuchehr, aber…«
    Er lehnte sich an den Baum gegenüber. Er legte die Arme auf die Brust und starrte mich fühllos an. Als seien seine Augen zwei seelenlose Glasscherben. »Wie Manuchehr?«, fragte er.
    Ich senkte den Kopf, »Ja doch.«
    »So, so! Und das sagst du erst jetzt?«
    In Anbetracht dessen, daß er mir den ganzen Weg über ins Ohr geflüstert und sich lächerlich gemacht hatte, zürnte er mir und sich selbst. Sein Stolz meldete sich und verdrängte alle anderen Empfindungen. Seltsam nur, daß er mir in diesem Zustand reizvoller vorkam. Ich fragte, »Wann hätte ich es denn sagen sollen?«
    »Nun ja, du hättest von vornherein sagen müssen, ›Ich will Mansur nicht.‹«
    »Habe ich gesagt.«
    »Wem hast du es gesagt?«
    Er war perplex und verstand nicht. Er konnte sich keinen Reim darauf machen.
    »Ich habe es allen gesagt. Meiner Chanum Djan, meinem Agha Djan. Doch sie hören mir nicht zu. Ständig schaffen sie mir Brautwerber heran. So sehr ich sie auch beschwöre, beim Namen aller Heiligen niemanden zu wollen, es geht ihnen in das eine Ohr rein und zum anderen hinaus…«
    »Weshalb willst du nicht? Lassen wir mich mal beiseite, was ist mit den übrigen Brautwerbern? Was ist denn an den anderen auszusetzen? Sind sie zu alt oder blind oder taub? Was fehlt ihnen?«
    Sein Blick bohrte sich wie zwei kalte, scharf gewetzte Messer in meine Augen.
    »Nichts, nichts fehlt ihnen. Der Fehler liegt bei mir…«
    »Bei dir?«
    »Ja… bei mir. Ich begehre einen anderen.«
    Ich sah ihm nicht in die

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