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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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dachte nur an sich.
    Frühmorgens stiegen wir ein und brachen nach Shemiran auf. Die Kutsche fuhr rechts durch die Gasse. Die Ausgangssperre war vorbei. An der dritten Seitengasse fiel mein Blick wieder auf die verschlossene Tür der Schreinerei. Als wäre nichts geschehen. Als meine Mutter, die mich verstohlen musterte, sah, daß ich kalt undungerührt dasaß, war sie beruhigt. Vielleicht hatte ich aufgehört, an ihn zu denken. Doch so war es nicht. Ich war erst recht entschlossen. In der vergangenen Nacht hatte ich nachgedacht und einen Plan ausgeheckt.
    Unsere Einfahrt in den Garten wurde von den Freudenschreien und dem Getriller meiner Cousinen und meines jüngeren Cousins begleitet. Die kühle Luft Shemirans und der baum- und wasserreiche Garten meines Onkels, der weder Anfang noch Ende zu haben schien, versetzten mich ebenfalls in Begeisterung. Auch Manuchehr war, obwohl er mit allen gefremdelt hatte, an diesem Tag wieder guter Laune. Vor Freude über die Kinder krähte er und stieß sich aus den Armen der Amme ab, um in ihre Arme zu gelangen. Es war gegen Mittag. Vater war mit Onkelchen und Mansur auf Rebhuhnjagd gegangen. Seine Frau, die in puncto Scharfzüngigkeit, Klatschsucht und Sarkasmus der Tante väterlicherseits in nichts nachstand und in der Familie berüchtigt war, empfing uns diesmal mit offenen Armen. Sie zog mich an sich, küßte mich und sprach mich fortwährend mit ›Meine Tochter‹ und ›Meine hübsche Braut‹ an. Meine Mutter lachte aus ganzem Herzen, und meine nur zwei, drei Jahre jüngeren Cousinen, mit denen ich von Anfang an aufgewachsen war und mit denen ich mich immer herumgeschlagen hatte, waren bei meinem Eintreffen verstummt und hatten mir respektvoll Platz gemacht. Als sei ich ein zerbrechliches Ding, das sie zum ersten Mal sähen. In meiner Gegenwart senkten sie ihre Stimmen. Sie sprachen höflich und wollten mir zu Diensten sein.
    Gegen Mittag herrschte im Garten und dessen altem, heruntergekommenem Haus ein reges Treiben. Das Mittagessen war bereit, das Speisetuch ausgebreitet. Es wurde im großen Zimmer ausgelegt, und Onkelchens Bedienstete liefen geschäftig umher. Immerhin war dieses Gastmahl ein Auftakt für die Hochzeit des Sohns ihres Herrn. Sie brachten frische Kräuter, Ayran und Sherbet, frische Gurken sowie Trauben und Birnen, die zu den Delikatessen aus Onkelchens Garten zählten. Das Speisetuch war mit Joghurt und Brot vom Bauern geschmückt. Einer fachte hinter dem Gebäude das Feuer für den Kebab an, und ein anderer stellte die Platten mit Pferdebohnenreis und Lammfleisch auf das Tuch. Die Amme, die Manuchehr an meine Mutter übergeben hatte, um mitzuhelfen, ließ das Glutkörbchen kreisen, um den Samowar für die Zeit nach demMittagessen vorzubereiten. Allein der Anblick dieser Vorbereitungen ließ mich in meinem Entschluß wanken und meinen Plan lächerlich erscheinen. Ich gehörte in diese Welt, in der Rahim fehl am Platz war. Der Gedanke an ihn war ein unausgegorener Traum, vergebens. Wie wollte ich in all dieser Pracht und Herrlichkeit, inmitten dieser familiären Gepflogenheiten und gesellschaftlichen Zwänge allein gegen alle revoltieren? Schon der Gedanke war kindisch, unmöglich, unvorstellbar.
    Mein Vater, Onkelchen und Mansur kamen angeritten – alle drei fröhlich und gut aufgelegt. Sie wurden von zwei, drei Lastträgern begleitet. Sie kehrten von den Abhängen des Albors-Gebirges zurück und hatten ein paar Rebhühner erlegt. Onkelchen sagte, ›Für Mahbub.‹ Was sollte ich mit Rebhühnern? Man hatte die unglücklichen Tierchen zerfetzt. Sie hatten kaum Fleisch auf den Knochen. Zum Teufel mit ihnen! In was für ein Schlamassel war ich geraten! Am schlimmsten war Mansurs Verhalten. Er war durcheinander und genierte sich. Mal siezte er mich, und mal sprach er mich wie in Kindertagen mit ›du‹ an. Er bot mir Ayran an, tat mir Reis auf und fuhr seine Schwestern an, daß sie mir Platz machten. Und die beiden, die mir zur Seite saßen, waren einen halben Meter abgerückt. Wann immer ich ihn nicht ansah, wußte ich, starrte er mich an, und wenn ich mich ihm zuwandte, errötete er und sah schleunigst anderswo hin. Ich würde ihn, sagte ich mir, so lange ignorieren, bis er von sich aus aufgab. Doch er tat es nicht. Er begriff nicht. Der Ärmste ahnte nicht einmal, was in meinem Herzen vorging. Dabei war er, um nicht ungerecht zu sein, ein stattlicher und gutaussehender junger Mann. Auch an seinen Manieren und an seinem Charakter gab es nichts

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