Der Morgen der Trunkenheit
tränenüberströmt und befürchtete, daß sie das Glitzern meiner Tränen im Zimmer sehen könnten. Meine Mutter sagte, »Sie ist mein Kind, mein Augapfel. Ich bin tief unglücklich. Mir blutet das Herz. Ich weiß, daß es Ihnen genauso geht, Agha.« Mit der Hand wehrte sie die Entgegnung meines Vaters ab und fuhr fort, »Nein,behaupten Sie nicht, daß es nicht so ist. Ich beobachte Ihr Verhalten. Da Sie wissen, daß sie es morgens aus Furcht vor Ihnen nicht wagt, in den Hof zu kommen und dort ihre rituelle Waschung vorzunehmen, solange Sie da sind, stehen Sie früher auf und verrichten das Gebet im Zimmer. Dann sehe ich, wie Sie sich neben das Fenster stellen, um sie zu sehen.« Und an meinen Onkel gewandt, »Seit dem Tag, an dem sich dieser Vorfall ereignet hat, hat er Mahbube keines Blicks mehr gewürdigt. Er erlaubt ihr nicht, ihm unter die Augen zu treten. Und sie hat einen Heidenrespekt vor ihm. Ja, Agha, er lugt aus einem Winkel des Fensters und betrachtet Mahbube, die zitternd wie eine Taube, die sich vor dem Überfall einer Katze fürchtet, ans Becken kommt und die rituelle Waschung vollzieht. Sie wischt sich die Tränen ab und wäscht sich. Kaum, daß sie ein Stück gegangen ist, ist ihr Gesicht erneut tränenüberströmt. Wieder kehrt sie zurück, um die rituelle Waschung zu vollziehen. In einem fort geht und kehrt sie zurück. Manchmal bleibt sie erstarrt am Becken sitzen, und Sie, Agha, seufzen im Zimmer auf. Ihr Herz fliegt ihr entgegen. Sie gehören nicht zu der Sorte Väter, die die Hand gegen sie erheben. Hundert Mal haben Sie gesagt, ›Ich werde sie unter meinen Füßen zerquetschen.‹ Wo denn? Weshalb haben Sie es nicht getan? Gehen Sie und töten Sie sie! Ich wäre nicht die Tochter meines Vaters, wenn ich Sie nicht davon abhalten würde…«
Meine Mutter begann zu schluchzen. Onkelchen sagte behutsam, »Chanum, wie reden Sie denn? Mäßigen Sie Ihre Zunge!«
Mein Vater hielt den Kopf gesenkt. Er hatte das linke Knie untergeschlagen, benutzte das angewinkelte rechte als Stütze für seine rechte Hand und stützte sich mit der Linken auf den Boden. In dieser Haltung sagte er schwermütig, »Statt ihre Tochter zu rügen, ist sie um sie bekümmert. Mir liest sie die Leviten. Ist schon recht, Chanum, sagen Sie, was Ihnen gefällt!«
Meine Mutter sagte mit etwas lauterer Stimme, die alle Augenblicke von ihrem Schluchzen unterbrochen wurde, »Glauben Sie, ich hätte ihr nicht die Leviten gelesen? Ich hätte sie nicht verprügelt? Ihr das Fleisch nicht mit Kniffen vom Leibe gerissen? Ihr Körper hat sich dermaßen verfärbt, daß es der Amme leid tat. Sie sagte, ›Gott möge dir die Hand brechen.‹ Recht hat sie gesprochen. Es ist mir zu Herzen gegangen. Möge mir doch die Hand brechen. Als ich sie kniff, sah ich, daß sie nur noch aus Haut und Knochen besteht. IhreGliedmaßen sind erschlafft. Mir blutet das Herz. Mein Kind ist ganz blaß geworden. Sie hat nicht die Kraft zu reden oder zu gehen. Und wir sind alle gemeinsam über sie hergefallen. Sie haben recht, Agha, ich bin tatsächlich ihretwegen bekümmert. Als ich sah, daß sie nicht ißt, war ich anfangs erzürnt. Ich dachte, sie trotzt. Ich schickte die Amme, damit die sie ermahnt. Sie ging, kam zurück und sagte, ›Chanum, Gott segne Sie. Ich mische mich nicht ein. Diese Welt war nicht für mich, wollen Sie, daß es die andere ebenfalls nicht ist? Wenn Sie und der Agha Gott nicht fürchten, ich tu es.‹ Ich fragte, was geschehen sei? Sie weinte, wie sollte ich es nicht tun?…«
Das Weinen unterbrach die Worte meiner Mutter. Ich zitterte ebenfalls und schluchzte. Ich fürchtete, sie würden mich hören, und biß mir auf die Hand. Meine Mutter faßte sich etwas und sagte, während sie sich mit dem Zipfel ihres Tchadors ununterbrochen die Tränen von Augen und Nase wischte, »Die Amme sagte, ›Chanum, wissen Sie, was Mahbube sagt?‹ Sie sagt, ›Was willst du mir sagen, liebe Amme, was ich mir nicht schon hundert Mal selbst gesagt hätte? Ich sage mir, denk an den Ruf deines Vaters. Denk daran, wie er deine Mutter tadelt. Denk an Chodjasteh, die ebenfalls entehrt wird… Ich weine die ganze Nacht. Beim Niederwerfen zum Gebet flehe ich Gott an, er möge mich sterben lassen oder mich erlösen, daß ich nicht mehr an ihn denken muß. Doch er tut es nicht, was soll ich tun?‹ Die Amme sagte, Ich sage, ›Mahbube Djan, weshalb schmollst du und ißt nicht?‹ Sie sagt, ›Amme, bei Gott, ich bin nicht bockig. Ich bekomme keinen Bissen
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