Der Morgen der Trunkenheit
hinunter. Was ich auch tue, es gelingt mir nicht. Je mehr ich mich bemühe, desto schlimmer wird es. Ständig steht sein Gesicht vor meinen Augen. Denkst du, ich wüßte nicht, daß er Schreiner ist? Daß er nicht zu uns paßt? Denkst du, ich merke nicht, daß er nicht den kleinen Finger des Prinzen oder Mansurs wert ist? Denkst du, ich hätte mir das nicht schon hundert Mal gesagt? Doch was kann ich dafür, daß mich dieser Schmerz heimsucht! Bei Gott, es ist eine Krankheit, liebe Amme. Ach, hätte ich doch nur die Masern, Cholera oder Pocken. Zumindest würden Agha Djan und Chanum Djan an mein Krankenbett kommen und sich um mich kümmern. Sie würden einen Arzt kommen lassen, daß er mich heilt. Doch jetzt, mit diesem Schmerz, haben sie mich, die ich nicht mehr aus noch ein weiß, mir selbst überlassen. Sie haben es auf mein Leben abgesehen. Ich würde michgern umbringen, damit sie und ich erlöst wären. Doch ich fürchte Gott. Liebe Amme, sag es um Gottes willen meinem Agha Djan. Sag ihm, er will zum Militär. Sag ihm, er will Offizier werden. Sag ihm, ›Denk, du hättest mich umgebracht. Laß mich seine Frau werden und gehen. Denk, du hättest eine Sklavin gekauft und freigelassen. Stell dir vor, du hättest für Manuchehrs Gesundheit einen Hammel geopfert. Denk, alles Übel von Chanum Djan, Manuchehr, Chodjasteh und Nozhat hätte sich auf mich übertragen. Stell dir vor, ich sei gestorben, als ich Scharlach bekam. Du würdest bei Gott eine gute Tat tun.‹ Was soll ich tun? Weshalb hilft mir denn niemand? ›Stellen Sie sich vor, ich sei eine zweite Leili . Sie haben doch soviel Nizami gelesen!‹«
Meine Mutter verstummte und fuhr wieder fort, »Sie schmilzt dahin wie ein Kerze. Ich fürchte, daß mein Kind wahnsinnig wird.«
Eine Stille trat ein, die nur von den Schluchzern meiner Mutter unterbrochen wurde. Schließlich sagte mein Onkel, »Nun ja, ich habe gesagt, was es zu sagen gab. Es liegt an Ihnen, zu entscheiden. Wenn Sie auf mich hören, geben Sie sie ihm und lassen Sie sie ziehen. Es gibt keinen anderen Ausweg. Je mehr Sie es ignorieren und Gewalt anwenden, desto heftiger wird ihr Verlangen. Solange diese Welt besteht, ist es so gewesen. Tun Sie gleich, was Sie zu guter Letzt doch tun müssen.«
Mein Vater drehte seine rechte Handfläche ratlos nach oben und sagte, »Ich weiß auch nicht mehr, was tun!«
Onkelchen sagte, »Nichts. Traue die beiden nach den religiösen Gesetzen. Es wäre ein gutes Werk. Vermähle sie leise und unauffällig und schick sie fort, ihr eigenes Leben zu leben.«
Mein Vater hob den Kopf und wandte sich an Onkelchen. Dann zeichnete er mit der Rechten ein X auf die linke Handfläche und sagte, »Denken Sie an meine Worte, Brüderchen. Mahbube wird gehen, aber sie wird zurückkehren. Bei diesem Zeichen, sie kehrt zurück. Tut sie es nicht, ändere ich meinen Namen.«
Der Onkel sagte traurig und bekümmert, während er sich von seinem Platz erhob, »Daran ist nichts zu ändern. Hoffentlich wird es einen glücklichen Ausgang haben.«
Meine Mutter sagte, »Um Gottes willen, ohne jede Bewirtung…«
»Ich bitte Sie, Chanum. Ich war doch nicht zu einem Empfang gekommen. Auf Wiedersehen.«
Meine Eltern, die beide ermattet dasaßen, gaben sich einen Ruck und sagten gemeinsam, »Wohlan denn. Auf Wiedersehen. Es war uns eine Ehre. Danke für Ihr Kommen.«
Weder dachten sie daran, aufzustehen, um die Umgangsformen zu wahren, noch bemerkte der Onkel ihre Unaufmerksamkeit. Alle drei waren zu verstört, als daß sie auf solche Formalitäten achteten. Der Onkel öffnete die Tür des Houzchaneh , die auf den Hof führte, stieg die Stufen hoch und verschwand in der Finsternis. Mein Vater seufzte auf und sagte zu meiner Mutter, »Sag Mahbube, sie soll diesem Jungen Bescheid geben, daß er am kommenden Dienstag eine Stunde vor der Abenddämmerung herkommt, damit ich höre, was er zu sagen hat.«
Meine Mutter sagte matt, »Sein Geschäft ist doch geschlossen, wo könnte Mahbube ihn finden?«
»Wie leichtgläubig Sie sind, Chanum. Mahbube weiß genau, wie sie ihn finden kann.«
Behutsam stieg ich die Stufen zum Dach hoch und kroch unter die Bettdecke. Als hätte man mir eine Bürde von den Schultern genommen. Ich war erleichtert. Ich sah die Sterne funkeln. Ein frischer Wind wehte aus der Richtung Shemirans. Die Luft wurde allmählich herbstlich. Wie still und schön doch alles war. Waren die Sterne schon immer da gewesen? Waren Teherans Nächte immer so friedlich und beruhigend?
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